Menschenbild

Die Pionierportraits sind in meinen Focus geraten. Ein Gruppenfoto von fünfzehn strammstehenden Kindern vor einer Holzbaracke mit Fenstern. Es ist Sommer, ein Ferienlager vielleicht. „In Dreierreihe aufstellen!“, lautete der Befehl. Kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sandalen, weiße Hemden. Alle Mädchen, auch die junge Pionierleiterin, haben dieselbe Frisur, die Jungs ebenfalls. Sie hätten uns lieber noch gleicher gehabt, noch uniformierter, mit Schiffchen auf dem Kopf und den identischen kurzärmeligen Pionierhemden mit dem Emblem an der Seite des einen Ärmels. Das kam alles später in der Schule. Der Fahnenträger steht, etwas abgesetzt von der Gruppe auf der rechten Seite, hält den Speer schräg in den Boden gesteckt, an dem der Wimpel der Gruppe befestigt ist, in einem Winkel von etwa dreißig Grad von seinem Körper weg. Hinter der rechten Ecke des Blocks steht kerzengerade mein Vater. Zwei Mädchen links schauen zur Seite auf etwas, was sie vom Vorgang des Fotografierens ablenkt. Um die Hälse sind die blauen Pioniertücher geschlungen, die möglichst frisch gewaschen sein sollten, genau wie die weißen Hemden, denn ein Pionier ist reinlich.

Oben habe ich nun nur einen Ausschnitt gerastert. Mit der Zeichnung beschäftige ich mich in den nächsten Tagen. Das hat Zeit. Interessant sind auch die einzelnen Gesichter, geformt von der Erziehung zum besseren, sozialistischen Menschenbild. Es lohnt sich, sich ihnen zuzuwenden.

Wandlung

Das Geräusch des Sturmes verbindet sich mit der Brandung der Autobahn. Das Himmelsgeschehen gleicht einer Schlacht. Wolkenfetzen galoppieren ostwärts. Irgendwo her kommt Regen, irgendwo reißt es auf und zerstobene Federwolken vor Blau werden sichtbar.

Beim Durchblättern der alten Fotografien, nahm ich mir ein Kinderportrait vor, auf dem ich etwa fünf Jahre alt bin. Ich stehe in einem Clownskostüm zwischen zwei Mädchen ähnlichen Alters vor dem Haupteingang der Erziehungsanstalt im Kloster Gerode.

Ich nahm mir mein Gesicht vor, rasterte die Fotografie und zeichnete es auf eine „Synaptische Kartierung“, die ich vor ein paar Wochen anfertigte.

Nun überlege ich ob ich diese Komposition mit einer Landschaft oder mit den Gesichtern einer Pioniergruppe komplettiere. Beides wären Optionen und vielleicht wäre es auch gerechtfertigt, beide zu realisieren.

Auf Grund der Veränderungen meines Gesichtsausdruckes auf den alten kleinen Fotos, glaube ich erkennen zu können, ab wann sich ein etwas verquollener Ernst auf den Zügen breit macht und  die Unbeschwertheit der vorausgegangenen Jahre überdeckt. Diese Wandlung ist mir derzeit die wichtigste, die darzustellen ist.

Gelb | Blau | Kräuter

Schräg von vorne trifft die Sonne auf die Gegenstände meines Schreibtisches. Die Stelle, an der sie am Morgen über den Horizont steigt, wandert nun schnell nach Links, wo Osten ist. Irgendwo hinten über der Krone des Bahndamms leuchten gelb Forsythien und weiß durchsetzt ist das graue Gestänge des Winterholzes.

Gestern kratzte ich mit der Schaufel im Regen Erde zusammen, die auf unserem Gelände so rar ist. Ich verteilte sie auf unserer Wiese an den Stellen wo der Schotter noch nackt zutage tritt und sich noch keine der widerstandsfähigen Pionierpflanzen angesiedelt haben.

Eine ganze Weile habe ich nicht auf Rolle 6 gezeichnet. Die Funktion dieses Produktionsschrittes haben die Einzelnen Transarentpapierformate übernommen. Zugunsten besserer Präsentationseigenschaften will ich daran auch noch eine Weile festhalten.

Starker Wind schickt die Wolkeninszenierungen schnell nach Südosten, reißt großformatige Löcher für das dahinter liegende Blau. Es zieht mich dann immer raus, wodurch eine durchgehende Konzentration auf der Strecke bleibt.

Weiß noch nicht genau, womit ich heute beginne. Die Kräuter des vietnamesischen Essens von gestern Abend sprechen noch mit mir.

Sechziger

Gestern nach einer Vereinssitzung mit C. beim Bier. Wir mussten uns danach was Gutes tun. Wir redeten über ihren Artikel in der FAZ zu Christa Wolf und über die Forschung auf diesem Gebiet.

Natürlich gehen mir da die Sechziger wieder durch den Kopf. „Der geteilte Himmel“. Alles bezieht sich derzeit darauf.

Mein Gefühl, die Architektur betreffend richtet sich am Erleben der Kongresshalle, der „Schwangeren Auster“ aus. Mode kam aus dem Westen und The Beatles(!). Die niedrig fliegenden Brummer, die damals noch in Tempelhof landeten.

Im Osten gab es die ausklingende Kulturrevolution, den sozialistischen Realismus, die gestemmten Schlager und Politlieder, das ganze Jungpionier- und Parteiprimborium. Die Partei war im Besitz der Wahrheit… Das dumpfe Proletariatsgetue.

Die Organisation meiner Arbeit werde ich nun auf andere sicherere Füße stellen, als auf den Verein Zwischenraum. Das wurde mir gestern während der Sitzung klar.

Am Abend werden wir ein wenig kulinarisches Geburtstagsgebummel im Bahnhofsviertel haben.

Eierkuchen

Die Tagebuchzeichnungen ähneln manchmal alten Landschaftsstudien von mir aus den Achtzigern, die ich mit Bleistift und Aquarellfarben machte. Das sehe ich gerne und erinnere mich daran, was ich fühlte und welches Glück mich bei dieser Arbeit umfing.

Joana brachte gestern ein Eierkuchenrezept auf ihren I-Phone mit. Auf dem Tisch entdeckte sie meinen I-Pod. Sie schnappte ihn sich und bezeichnete ihn als eine süße Antiquität, die so gut wie nichts könne.

Wir rührten dann den Teig und über die lange Mittagszeit hinweg gab es jede Menge Eierkuchen, bis alle satt waren. Beim nächsten Mal wollen wir damit Bilder backen. Noah dichtete mit Worten, die nicht zusammenpassen. Wir brachten ziemlich surreale fünf Stunden miteinander zu, ohne dass es irgendwann mal langweilig wurde.

Am Abend in der Premiere von Dantons Tod. Die Inszenierung war spektakulär. Ein unausgesetzter Gang aller Figuren auf drei großen, sich unablässig drehenden, schräg gestellten Walzen. Dieses revolutionäre Niederwalzen von allem, das sich der vermeintlichen Wahrheit in den Weg stellt, erinnert mich wieder an meine Sechzigerjahre. Die Nachforschungen nach meinen Erinnerungen an diese Zeit, sind der Schlüssel für den produktiven Rückblick, aus dem nun Zeichnungen entstehen.

Kunstfrei

Gestern hatte ich nach der morgendlichen Tagebucharbeit einen kunstfreien Tag, insofern das überhaupt möglich ist. Immerhin fand aber keine Produktion weiter statt, kein Weitermalen am Portrait und kein Transparentpapier. Stattdessen kümmerte ich mich um den Haushalt und den Einkauf, rasierte mich und ging zum Friseur. Etwas Gartenarbeit noch, bei der ich unseren Brombeerschnitt etwas zerkleinerte, um ihn besser verbrennen zu können.

In einem gestern gefundenen Korbsessel sitze ich vor dem Atelier in der Sonne. Das Brandungsgeräusch der Autobahn Nummer 5 wird vom Westwind herangetragen. Von Osten her schallt das Klopfen einer Dachdeckerfirma, die seit einer guten Woche meine akustische Erinnerung an Mumbai wach hält.

Die Ringeltauben im Mirabellenbaum versuchen einen Kanon bei ihrem Nest, eine Amsel trägt aus der entgegengesetzten Richtung, meinem rechten Tonkanal, zur Frühlingssoundinstallation bei, Gepiepse der Meisen wandert unruhig von hier nach da.

Die Arbeit an meinem Autobiografieprojekt erzeugt Erkenntnisse über die Art und Weise meiner Sozialisation. Gestern wurde ich gefragt, was in mir mit den Tränen hochkam, als wir bei Session Music meine Gitarre in das Auto legten. Meine Kindheit kam da hoch, meine Jugend in der das Wünschen und der Rock`n`Roll Ausdruck von schädlichem Egoismus waren.

Durchlässigkeit der Malerei | Schwarzbier

Der versprochene Regen bleibt aus. Dafür ist es trübe und kalt. Das Grau stemmt sich gegen die blühenden Bäume und will ihr Licht schlucken. Am Vortag waren sie noch voller Insekten, ein akustischer Raum, der sich in den Sommer streckte.

Gestern habe ich zu lange gemalt. Das Rasterportrait auf dem großen Format ist aber nun fast fertig. Der beabsichtigte durchscheinende Charakter zwischen dem dokumentarischen Vordergrund und der Komposition der Mäntel mit den Farbkreisen, hat sich eingelöst. Derzeit füllt das Portrait fast genau die Hälfte des Bildes aus. Das will ich noch ändern, indem ich das Raster nach Links weiter in einen Übergang auslaufen lasse. Diese Änderung macht es möglich, dass ich, ähnlich wie in den Zeichnungen auf Transparentpapier und in den täglichen Collagen, eine querformatige Landschaft hinein schiebe, die trotz ihrer Kleinheit ein Gleichgewicht zwischen den beiden Seiten einrichtet. Welche der Landschaften das sein wird, ist noch nicht klar. Am ehesten eine Elblandschaft, die mit Strommasten auf dem Horizont, der Eisgang oder der Betonklotz im Hochwasser.

Nach den zwölf Stunden Malerei gestern, fing ich an zu frieren und versuchte erst einmal ein wenig zu schlafen, was mir nicht gelang. Dann ging ich in die Münchener Strasse, aß Pakoras und Samosas zum Abend und trank danach noch ein tschechisches Schwarzbier.

Andere Materialität

Seit gut vier Monaten führe ich dieses intensive Arbeitsleben im Atelier. Mir fällt das besonders auf, wenn ich nachts arbeite und wenn es dann langsam dämmert.

In dieser Nacht oder am sehr zeitigen Morgen vervollständigte ich die Umrisszeichnung der Projektion meines Kinderportraits auf der großen Leinwand. Die Malerei soll nun einen anderen Charakter bekommen und mehr mit meiner kontinuierlichen Produktion zutun bekommen. Mehr weiße Wandfarbe, Graphit, Tusche und Schelllack. Vielleicht ergibt sich aus dieser Materialität auch inhaltlich eine andere Herangehensweise. Sicherlich kann es so auch kleinteiliger werden. Ich weiß nicht – eine neue Phase jedenfalls, die mehr mit mir zutun hat als das vorige Arbeiten an diesem Riesenformat.

Und dann gab einen sehr schönen Sonnenaufgang, schon weit links vor meinen Rolltoren. Ich bin froh, dass der Winter nun vorbei ist. Nachts bleibt es zwar noch kalt bis an den Gefrierpunkt heran, aber tagsüber hat man schon manchmal ein Sommergefühl.

Heute ist ein Tag ganz ohne Termine, an dem ich mich ganz auf diese neue Arbeit konzentrieren werde. Darauf kann ich mich freuen.

Gestern Abend war ich noch mal in dem Flaschenbierladen in der Münchener Straße. Ziemlich viele junge Menschen waren da. Man kann rumstehen und Menschen anschauen.

Übermalung

Nun habe ich mitten in der Nacht begonnen, das große Bild mit meinem Rasterportrait als Sechsjähriger zu übermalen. Die Licht- und Schattenpunkte der Projektion sind auf dem unruhigen Kringeluntergrund oft schwer zu erkennen. Ich malte, bis ich vor Müdigkeit fast von der Leiter gefallen wäre und konnte danach dennoch nicht mehr richtig schlafen.

Außerdem fertigte ich eine Rasterzeichnung von mit als Jungpionier an. Es ist, als würde ich die Serie „Der Rock `n` Roll höhlt einen Jungpionier aus“ weiterführen.

Jetzt gehe ich gleich in „meinen“ Japanischen Garten, auf die Wege zwischen dem Bambus und über dem Wasser.

Die Bauleute, die die ganze Zeit schlechtgelaunt hier herumhingen, wollten nun einen Container neben unsere Wiese stellen. Roland kam zu mir und erzählte mir das. Ich habe dann lautstark protestiert, denn sie hatten schon den Essigbaum, den ich schön beschneiden und pflegen wollte, abgeschnitten. Gut, dass ich meinen Nussbaum noch nicht dorthin gepflanzt hatte.

Man verwächst so schnell mit kleinen Dingen, die man pflegt, anfertigt oder gestalten möchte.

Einflüsse

Der Versuch, sich am Sonntag von der Arbeit fernzuhalten, gelingt natürlich nur insofern, als ich die immerwährende Tagebucharbeit nicht beiseite lassen kann und will.

In den neuen Räumen des MMK beschäftigte ich mich mit Rosemarie Trockel. Manche der Zugänge zu den Materialien leuchten mir ein, und ich kann sie auch auf meine Herangehensweise anwenden.

Am frühen Abend ein Film über Pierre Bonnard. Und schon veränderte ich die Farbpalette meiner täglichen aquarellierten Zeichnungen. Um so mehr leide ich unter dem jetzigen Grau draußen, unter der kalten Trübnis, die die Farben verödet.

Dann auch noch die missmutigen Gesichter der Bauleute, die seit einigen Tagen auf dem Gelände sind und die Stimmung runterziehen. Sämtliche Freundlichkeit wird mit schlechter Laune quittiert. Man muss sich von Ihnen fernhalten.

Die Einflüsse auf die Arbeit sind oft direkt und kommen aus den verschiedensten Richtungen, gehen durch mich hindurch, und finden ihren Niederschlag besonders in den Büchern.

Wandergruppe

Am Morgen die ganz normale tägliche Arbeit. Zurzeit fällt sie mir nicht schwer, denn ich fühle mich wohl in meinen vier Wänden. In der kommenden Woche beginne ich nun vielleicht wirklich, das große Bild zu übermalen. Mit den Motiven habe ich nun Sicherheit innerhalb der Varianten der Rasterung und der Ausschnitte gewonnen.

Meinen kleinen I-Pod, habe ich nach vielen Monaten wieder aus der Schublade geholt und ihn hier mit meinem Netz verbunden. Es ist ganz praktisch, wenn man kurz was schauen will und der Rechner ist nicht hochgefahren.

Mittags hatte ich Besuch von einer GPS-Wandergruppe, die mich über meine Arbeit ausfragten und überhaupt staunend und neugierig in meinem Atelier standen. Im Netz zeigte ich ihnen meine Handprintwanderungen, die ich in Indien gemacht hatte. Außerdem wollten sie wissen, an welchen Projekten ich gerade arbeite und welche ich plane. Da hatte ich einiges zu erzählen und auch schon zu zeigen.
Auf dem Konstablermarkt lernte ich gestern die Mutter einer bekannten Publizistin kennen, die beim Hessischen Rundfunk arbeitet. Ihr Name war mir ein Begriff, worüber sich die ältere Dame sehr freute, denn sie war ziemlich stolz auf ihr Kind.

Grau und unscharf

Es gibt erhebendere Naturereignisse, als eine solche Sonnenfinsternis, wie gestern. Eigentlich war es ein strahlender Tag, der auch noch Wärme in sich barg. Mit zunehmender Abdeckung der Sonne durch den Mond, begannen die Farben zu verschwinden. Alles verfiel hinter einem lasierenden Grau, die Umrisse der Formen wurden unscharf und die Vögel fehlten in der Luft.
Auf dem Hof, wie man den Raum zwischen den Gebäuden auf Teves nennen könnte, liefen die jungen Menschen mit ihren Smartphones herum und versuchten darauf etwas von dem Ereignis mitzubekommen, weil sei keine Spezialbrillen hatten. Ich lieh ihnen meine Schweißermasken, hinter denen das Geschehen genau zu beobachten war. Die Temperatur fiel und alles in allem wurde es ungemütlich. Ich war deswegen froh, als es vorbei war.

Am Zeichenpult draußen probierte ich eine Weile, welches gerasterte Landschaftselement sich als kompositionelles Gegengewicht zum Portrait meines fünfundzwanzigjährigen Vaters eignen würde. Ich entschied mich für ein Hochformat des Elbhochwassers mit Betonblock.

Die Kunstschüler erfanden gestern eine Gestaltungstechnik mit Wachsmalstiften, flüssigem Kerzenwachs und Tusche auf Filzpappe. Mit diesen Eigenerfindungen gehen sie enthusiastisch um. Musik und Tanz spielt eine zunehmende Rolle innerhalb des kreativen Prozesses. Am nächsten Freitag, wenn es Osterferien gibt, kommen sie schon am Vormittag. Dann wollen wir gemeinsam Eierkuchen backen und einen ganzen Tag miteinander verbringen.

Familiär

Gerade saß ich 108 Atemzüge lang auf dem Brett vor meinem Rolltor der Sonne, die nachher vom Mond in Teilen abgedeckt wird und am Morgen golden und warm über den Ruinen von Teves Ost aufstieg, zugewandt. Ich dachte an die Höhlen von Ellora und Ajanta und an die letzte Sonnenfinsternis vor einigen Jahren. Die Stimmung in der Frankenallee war damals gespenstisch.

Gestern arbeitete ich viel in einer produktiven Stimmung. Es gelang mir zwischen dem Zeichnen des Portraits meines Vaters aus dem Jahr 1960 und der Erarbeitung der Konzeption für das Projekt „Biografie – ein Haus“ hin und her zu schalten. Auf der Zeichnung fehlt nun noch ein Stück gerasterte Landschaft, die das Format ins Gleichgewicht bringen soll. Immer öfter denke ich daran, nun das große Bild mit diesen Motiven zu beschichten.

Am späten Nachmittag machte ich mit Roland noch eine Stunde Gartenarbeit. Immer noch sind Essigbäume abzuholzen und Brombeerwurzeln auszugraben. Danach haben wir in einer hölzernen warmen Ecke der Terrasse, mit ausgestreckten Beinen, ein sommerliches münsteraner Bier getrunken.

Jetzt, wie an jedem Freitag steht Atelieraufräumen an, Einkaufen und Kochen. Zum Wochenende hin wird es familiär. Zwischendrin will ich mir die Sonnenfinsternis anschauen.

Rasterumrisse

Mit einer Rohrfeder zeichnete ich die Umrisse des Rasterportraits meines Vaters aus dem Jahr 1960 auf eine „Synaptische Kartierung“. Das dauerte den vollständigen Nachmittag, während ich am Tisch draußen in der Sonne des Frühsommertages saß. Um alle Formen des Rasters herum zeichnete ich diese Tuschelinie. Zunächst glaubte ich, dass dieser Arbeitsschritt für sich stehen könnte. Aber das Ergebnis war nicht so. Man sieht es in dem oben eingesetzten Fragment. Somit will ich den nächsten Schritt gehen und langsam beginnen, die Formen schwarz auszufüllen. Zunächst wird das im Zentrum geschehen. Dann wird sichtbar, wie weit es bis an den Rand gehen muss.

Die Morgensonne zeichnet die Schatten der Pflanzen vor den Fenstern mittlerweile auf den Fußboden. Der Sonnenstand verändert sich dramatisch. In der Hochdruckwetterlage der letzten Tage war das gut nachzuvollziehen.

Als ich am späteren Nachmittag einkaufen ging, fand ich auf dem Parkplatz des Supermarktes eine graublaue Windjacke mit dem großen Rückenschriftzug „Bundesgrenzschutz“. Näher ist mir das Geschehen um die Proteste gegen die Europäische Zentralbank nicht gekommen. Solche Gewaltaufmärsche meide ich. Aber jetzt habe ich die Jacke in einen Ast gehängt, den wir als Grenzzeichen aufgepflanzt hatten, um unsere Wiese vor den vielen Fahrzeugen zu schützen, die tagsüber und abends auf das Gelände rollen.

Das Kohlekraftwerk im Westhafen verschleiert oft die Morgensonne milchig, weswegen ich mich dann doch von draußen nach innen an meinen Schreibtisch zum Schreiben und Zeichnen zurückziehe.

Schwünge, Farbauffächerungen, Wasserspiele | funktionsloser Betonklotz im Hochwasser

Nun ist das Portrait meiner Mutter aus dem Jahr 1960 eine Verbindung mit dem funktionslosen Betonklotz in Elbhochwasser eingegangen. Zwischen den gestrigen Terminen am Vormittag und am Nachmittag zeichnete ich das in der Sonne am Stehtisch draußen, wo die Tusche flugs trocknete.

Erst am Nachmittag bin ich mit der Tagebucharbeit fertig geworden. Die Zeichnungen führen mich in die empfindsame Welt der Schwünge, Farbauffächerungen und Wasserspiele auf Papier. Oft genug können sich Stimmungen darin spiegeln oder durch die Zeichnungen ausgelöst werden. Ich weiß nicht genau, in welcher Reihenfolge die gegenseitige Beeinflussung jeweils stattfindet.

Im Stadtplanungsamt sind gestern alle ehemaligen Beiratsmitglieder der Sozialen Stadt Gallus verabschiedet worden. Das alles scheint lange her zu sein, wie aus einer ganz anderen Lebensphase. Entscheidend ausgewirkt hat sich für mich, im Verlauf dieses Prozesses, die Einrichtung des Tevesgeländes. Die Möglichkeiten meiner Arbeit haben sich durch das Atelier in Verbindung mit der Freifläche sehr erweitert. Dennoch bin ich in meinen Mitteln der Kunstproduktion bescheiden geblieben. Entscheidend scheint doch bei allen Beeinflussungen von außen, die innere Motivation und Kontinuität zu sein.
Nun habe ich begonnen, mich mit einem neuen Museumsprojekt zu beschäftigen. Dafür werde ich den Förderantrag schreiben, den ich nun schon ein paar Tage vor mir her geschoben habe.

Dschunken

Oben sieht man in der Collage den gerasterten, funktionslosen Betonklotz im Elbhochwasser über einer „Synaptischen Kartierung“ und über der vorausgegangenen Collage. Es ist ein Ausschnitt des Blattes, das ich gestern zeichnete und das durchaus noch etwas mehr Dichte und Ausgewogenheit vertragen könnte. Möglich wäre das Portrait meiner Mutter als ein Gegengewicht, das auf der anderen Seite angeschnitten, quasi aus dem Format herausragen würde.

Immerhin habe ich mich gestern noch zu einem Zettel motivieren können, auf dem die nächsten Projekte stehen, damit ich sie nicht vergesse. Zu aller oberst steht das Konzept für das nächste Museumsprojekt, das mit Biografie zutun hat und mir somit zurzeit nicht schwer fallen sollte. Aber lieber zeichne ich oder kümmere mich um die Frühlingsgärten.

Am Abend machte ich ein so großes Feuer, dass in der Eisenschale jetzt, nach vielleicht achtzehn Stunden, immer noch Glut ist. In der Nacht trafen sich das Funkeln der Holzkohle und das der kalten Sterne. Das Feuer duftete und wärmte die ganze Nacht. Aller Gartenschnitt ist nun verbrannt und Roland kann wieder ans Werk gehen.

Am Morgen saß ich zwanzig Minuten im Japanischen Garten in der Sonne und betrachtete die Spiegelungen der geschwungenen Dächer, die wie Dschunken in den angelegten gewundenen Teichen schwammen.

Das Nichtzeichnen

Immer, wenn ich das heutige Datum schreibe, denke ich daran, dass mein Freund Andreas Geburtstag hat. Das ist eine tief eingeschriebenes Zahl.

Das Atelier ist unaufgeräumt. Das verwirbelt die Gedanken. Sonne trifft durch einen Schleier auf das Durcheinander von Transparentpapierblättern, Pappen, Fotos, Büchern, Obstschalen, Projektoren, Kartons, Messern, Telefonen…

Einige Fotos aus den Sechzigern holte ich gestern bei meinen Eltern in Thüringen ab. Insgesamt fast fünf Stunden auf der Autobahn, die am Abend auf der Rückfahrt richtig voll wurde.

Die Nachbarwerkstatt der Polsterer ist belebt, was nicht immer so ist. Mein Nachbar auf der anderen Seite kommt auch öfter morgens früh an. Er malt viel und fleißig, was auch immer etwas von Materialschlacht hat.

Und ich muss nun aufräumen und mir einen Arbeitsplan machen, damit ich nicht ins Schwimmen komme. Das Zeichnen geht mir in letzter Zeit nicht so leicht von der Hand, was auch mit einem Schmerz im Daumen zutun hat. Das Nichtzeichnen ist erholsam.

Apfelweinstand

Ein neues, weiß-jungfräuliches Buch, ein Regenmorgen, wie bestellt nach der vielen Sonne und dem Wind, die alles etwas austrockneten.

Gestern hatte ich einen freien Sonnabend – na ja, das Tagebuch und die Neueinrichtung des abgestürzten und blank geputzten Rechners, die immer wieder zu langwierigen Suchaktionen führen kann, mal ausgenommen.

Am frühen Nachmittag traf ich auf dem Markt an der Konstablerwache Robert mit seinem Bassisten, an dem Apfelweinstand, an dem ich immer meinen Kanister auffüllen lasse. Wir sprachen über das gemeinsam gesehene Dylankonzert in Zwickau und über die neue Platte „Shadows in the Night“. Er erzählte, dass das nächste Konzert in unserer Nähe am 20.6. in Mainz stattfinden wird. Diese Karten sind nun schon bestellt.

Ich trudelte dann noch etwas zwischen den Ständen herum, suchte nichts Bestimmtes, trank noch einen Grauburgunder und nahm etwas Licht auf.

Den Scan eines Elbfotos mit einem funktionslosen Betonsockel mitten im Hochwasser habe ich gerastert und in die heutige Collage eingefügt. Dazu die Schwünge der Tagebuchzeichnungen.

Nützlicher Crash

Viel Freude mit den Kunstschülern gestern. Sei fanden neue Materialien, wie Wachs und Filzpappe, mit denen sie experimentierten. Sie gossen Muster, die die Pappe durchtränkten und diese Stellen entsprechend reservierten. Dadurch konnte dort die verdünnte Tusche, die sie über alles strichen, nicht einsinken. Mit diesem Effekt kann man nun gut weiter spielen.

Für mich stellte ich einige „Synaptische Kartierungen“ her, die ich nun als Untergrund für weitere Rasterzeichnungen benötige. Ich begann dann das Portrait meiner Mutter aus dem Jahr 1960 fragmentiert zu übertragen. Die Zeit meiner Einschulung kurz vor dem Mauerbau und die Jahre darum herum interessieren mich besonders.

Morgen fahre ich zu einem Besuch zu meinen Eltern und werde dort weitere alte Fotos sichten.

Nach dem Absturz meines Rechners habe ich nun einiges neu einzurichten. Die Dateien sind noch alle da, nur die Software muss neu aufgespielt werden. Immer öfter spielen ja Zugangsdaten für Netzvorgänge eine große Rolle. Auch das muss alles irgendwie wieder neu erstellt werden. Etwas lästig das ganze, aber auch erneuernd und befreiend. Ein nützlicher Crash.

108

Noch einmal reihen sich die Güterwaggons auf dem Bahndamm unter der gleichmäßigen Lichtflut und unter den Flugzeugstarts dieses Morgens. Die Temperatur liegt noch nahe beim Gefrierpunkt, und dennoch kann ich in der Nische meines Rolltores sitzend, die Wärme dieser Stunde auffangen, das Buch auf meinen, zum Schneidersitz gebeugten Beinen, um das hier aufzuschreiben.

Mir erscheint die erste Begegnung mit Delhi, das am Morgen, kurz nach dem Sonnenaufgang ähnliche Temperaturen aufwies, in meinen Erinnerungen. Die Leute waren in Decken gehüllt und bereiteten sich auf kleinen Holzfeuern am Straßenrand ihr Frühstück zu. Rauch über der ganzen Stadt! Auf einen Blech wurde Fladenbrot gebacken und in einem Topf oder Kessel Tee gekocht. An diesem ersten Morgen kaufte ich mir Tee und solches Brot an einem Stand gegenüber vom Hotel. Die Form der Verpflegung in offenen Restaurants und an Ständen wurde, während unserer bisher vier Reisen über die indischen Landschaften hinweg, zur Routine.

Mein wichtiger Rechner, mit dem ich ins Netz gehe, ist mir vorgestern abgestürzt. Ich brachte ihn zur Reparatur und hoffe ihn, wenn auch für viel Geld, heute wieder auslösen zu können. Andererseits fühle ich mich aber ohne die Verbindungen in die Welt ganz leicht. Keine Mails, von denen die meisten eh unwichtig sind, keine Fernsehbilder und Nachrichten, nur der Raum in Stille.

Manchmal sitze ich in der Sonne und zähle meine Atemzüge bis 108.

Verstecktes Bühnengeschehen

Die Insel inmitten des Eisgangbildes interessierte mich gestern beim Zeichnen auf Transparentpapier. Die erste Schicht auf dem Blatt war eine sehr wilde „Synaptische Kartierung“, die ich vor ein paar Wochen anfertigte. Draußen am Stehpult im direkten Sonnenlicht hatte ich damit mehrere Stunden zutun. Später dann im Atelier, legte ich die ausgedruckte Rasterlandschaft und die transparente Zeichnung auf eine Glasplatte und beleuchtete alles von unten. So konnte ich auch durch die kompakten Areale der Kartierung hindurchschauen, um das durchzuzeichnende Raster zu erkennen und es als nächste Schicht hinzuzufügen.

Wenn sich die Punkte verdichten, miteinander verschmelzen oder durch Manipulationen mit Photoshop verändern, bilden sie manchmal surreale Figurengruppen, die wie aus einem Bühnengeschehen von Goldoni heraus gestiegen zu sein scheinen. Scherenschnittartig bilden sich die Szenen ab. Es darf kein Gran an Vergegenständlichung hinzugefügt werden. Dann verlöre das Spiel zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit sofort seinen Reiz, wie es manchmal bei Max Ernst vorkommt.

Wieder flutet Licht den Raum. Die Schatten der Pflanzen in den Regalen vor der Glasfront, werden an die Wände und in die Regale mit den Büchern, Skulpturen und Fotografien geworfen Alles Bildmaterial fließt ineinander.

Die Arbeit im Freien belebt die Sinne, ermüdet aber auch schneller. Das ganze Sonnenlicht, der Wind und die Temperaturunterschiede sind anregend anstrengend.

Steigende Temperatur

Schnell steigt die Temperatur, wenn die Sonne, nach ihrem Aufgang, mit aller Kraft waagerecht durch die Glasfront und die Pflanzen in das Atelier flutet, um etwa drei Grad.

Gleich gebe ich meinem Impuls nach, die Pflanzen, die dem verschwenderischen Licht zunächst viel Wachstum entgegen strecken, zu wässern. Wegen der Anstrengung die Leitern hinauf und hinab zu steigen, komme ich selbst ins Schwitzen, ziehe meinen Pullover aus und gehe immer wieder hinaus, um mich abzukühlen und die Temperatur dort zu prüfen. Es ist noch ziemlich kalt bei Nordwind und ganz klarem Himmel.

Im Architekturmuseum baute ich gestern die Ausstellung Schattenboxen ab und besprach neue Projekte. Die Ausstellung war schön, ein wichtiger Schritt mit dem Kunstschülern und wurde in den zweieinhalb Monaten von vielen Menschen gesehen.

Mir gehen ansonsten die Verbindungen durch den Kopf, die aus den konkreten Schwüngen, den Fotorastern und den Verwischungen auf Transparentpapier, aber auch in den täglichen Zeichnungen ihre Rollen spielen. Einiges neues fotografisches Material habe ich hervorgeholt und für die Arbeit gesichtet.

Passanten

Den ganzen gestrigen Tag verbrachte ich draußen vor dem Atelier in der Sonne. Kurzärmlig stand ich am Pult oder saß an dem kleinen dreieckigen Tisch, um zu schreiben und zu zeichnen.

Das kleine Stück Horizont aus der Eisgangfotografie, mit Strommasten und der Industrieabfallhalde, in einem feineren Raster, legte ich über ein Stück „Synaptische Kartierung“.

Viele Begegnungen draußen mit Passanten, ganz ungewohnt nach dem winterlichen Rückzug.

Ein Freund von Franz arbeitet mit jungen Flüchtlingen, die alleine nach Deutschland gekommen sind. Darunter gibt es ein paar Kunstinteressierte. Vielleicht könnte man zusammen was mit ihnen machen. Wenn die Bedingungen stimmen, wäre ich interessiert.

Spaziergang am Main, dann in unserer derzeitigen Lieblingsbar im Westhafen. Die Soundschleife kennen wir nun schon auswendig. Das Bier war diesmal kalt.

Abschiedsvorstellungen

Ein dreiteiliger Abend der Forsythe Company im Frankfurt LAB, in der Schmidtstraße um die Ecke. Obwohl die Company nach dem Weggang von Bill Forsythe weitergeführt wird, handelt es sich jetzt um Abschiedsvorstellungen. Man spricht nach den Aufführungen noch mal miteinander. Von einem der Tänzer, mit dem ich über zwanzig Jahre ein lockeres Gespräch geführt habe, wurde ich sogar umarmt. Mit Nicole Peisl sprach ich über das Bildkünstlerischen in ihrem Stück „Vielfalt“.

Jone San Martin, die Tänzerin, mit der ich am meisten die Ära Forsythes verbinde, hatte eine zwölfminütige Soloperformance, war aber nach der Vorstellung nicht mehr da. Im schwindenden Licht tanzte sie sich langsam in die Übermacht ihrer Spracherfindungen. Am Schluss hörte man nur noch elektronische Wortverfremdungen in einem dunklen Nebel. Ein deutliches Verstummen der Welt.

Nun gehen sie in alle Welt auseinander, und ein Teil, der über zwanzig Jahre lang zu unserem Leben gehört hatte, existiert nicht mehr. Schon von Heidelberg aus fuhren wir regelmäßig zu den Vorstellungen nach Frankfurt. Meine ganze bildnerische Arbeit wäre anders verlaufen, wenn ich nicht die Anregungen der Company gehabt hätte.

Etwas Gartenarbeit in der Sonne gestern, noch mal am Nachmittag ein langer Spaziergang am Main zwischen den vielen Menschen, die gestört haben. Am Abend, nach dem Ballett noch etwas Wein am Küchentisch zum Ende dieses Sonntages.

Schwünge

Die Windungen der sich verschlingenden Linien, die den konkreten Gegenpart zu den gleichzeitig stattfindenden Verwischungen darstellen, lassen einen Zusammenhang entstehen, in dem sich diese Elemente einander hervorhebend in Szene setzen können. Die Schwünge sind wie Erinnerungswege an deren Kreuzungen ein Déjà-vu stattfindet. Dort begegnen sich dieselben, schon gesehenen Bilder, die aus verschiedenen zeitlichen Perspektiven betrachtet werden können.

Diese Linien, zu denen ich durch die Malereien von Franz inspiriert worden bin, bilden die abstrakte und zugleich konkrete Figuration, wie die Rasterausschnitte aus der Landschaftsfotografie auf Transparentpapier im Gegenspiel oder Zusammenspiel mit den „Synaptischen Kartierungen“.

Der nächste logische Schritt wäre, nach meinem Verständnis und Gefühl, die Linienschwünge mit dem Raster zusammen zu bringen, wie ich es oben in der Collage begonnen habe. Das ganze kann aber eher „analog“ auf Transparentpapier ausgeführt werden, vielleicht mit Fettkreide und Tusche…

Lange Spaziergänge am Main und Kochabende. Vormittags machte ich gestern Gartenarbeit, wie heute vielleicht auch, weil das Wetter dazu einlädt.

Motivschichten

Über dem Horizont hängt Dunst. Kondensstreifen zeigen strahlenförmig vom östlichen Himmel aus nach Westen und Norden. Wenn die Sonne hinter einen solchen Streifen gerät, nehmen das meine Sinne sofort wahr. Die Temperatur fällt, das Licht bekommt eine andere Farbe und wird schwächer.

Am Abend schnitt ich die Essigbäume zurück. Sie breiten sich aggressiv aus, können aber mit etwas Pflege sehr schön werden.

Immer öfter nehme ich mir kleine Einzelteile aus der winzigen Fotografie des Elbeisganges vor. Sie bekommen eigene Bedeutungen und erzählen verschiedene Geschichten. Ganz im Hintergrund entdeckte ich eine Halde von Rückständen der Zellstoffgewinnung, die je nach Windrichtung in der Gegend einen fürchterlichen Gestank verbreitete. Die Vergrößerung dieses Stücks Horizont mit den Strommasten rasterte ich gestern und begann sie auf eine „Synaptische Kartierung“ zu schichten.

Es wäre sinnvoll, Fragmente der Zeichnungen und Aquarelle von damals mit zu verwenden. Stark vergrößert könnten sie zusätzliche Strukturen bilden, eine weitere Schicht der Erinnerung.

Himmelsräume

Unweit nach Osten hin, über den Gleisen, befindet sich ein Signal, das sowohl die Züge der Stadtbahn, der Regionalverbindungen und die langen Güterwaggonreihen, zunächst zur langsamen Fahrt und dann zum Anhalten zwingen kann.

Trotz des südlichen Windes treiben die Wolken und der Hochnebel in verschiedene andere Richtungen und geben dem Himmelsblau Raum, in dem die Sonne, wie das Auge einer indischen oder ägyptischen Gottheit auf uns blickt. So kann ich im wärmenden Licht draußen an dem Stehtisch schreiben, höre das Gurren, dann das Klappen der Ringeltaubenflügel beim Auffliegen und den Amselgesang, der die fern landenden Flugzeuge übertönen kann.

Gestern ist eine strenge Rasterstruktur als Schicht über einer „Synaptischen Kartierung“ entstanden. Die schwarzen Tuschequadrate stammen von einer starken Vergrößerung des Luftraums über dem Eisgang an der Elbe, den ein Vogel, wahrscheinlich eine Möwe, mit ihren Flügeln verwirbelte.

Im Städel, am Abend, sah ich den Eisgang mit dem Eisernen Steg von Max Beckmann. Wir genossen noch mal die Ruhe vor dem großen Ansturm, wenn die Monetausstellung zum zweihundertsten Jubiläum des Museums eröffnet ist und bis Juni anhalten wird.

Flusslandschaft

Beim Aufwachen streiften schnell wechselnde Szenen an mir vorbei. Es waren Erinnerungsbilder, beispielsweise die Strommasten am Elbufer, wie sie in der Fotografie auftauchen, die mich schon ein paar Wochen beschäftigt. Das Motiv findet sich auf ganzen Serien von Zeichnungen und Aquarellen aus dem Anfang der Achtzigerjahre.

Der Fluss führte öfter unbändiges Hochwasser, das aus seinem naturbelassenen Bett in die Auen und Wiesen floss. Die Masten, die dort standen, waren in haushohe Betonsockel eingegossen. Manche von ihnen standen ohne die Stahlskelette der alten Trassen funktionslos in der Landschaft.

Das Erlebnis dieses Landstriches, war Anlass, mich von den romantischen Naturdarstellungen zu entfernen. Dennoch arbeitete ich viel im Freien vor der Landschaft.

Gestern zeichnete ich die große querformatige Raster-Flusslandschaft fertig, für die ich zwei volle Nachmittage benötigte. Im Nachdenken über die Verwendung des Motivs für die große Malerei, stellte ich mir vor, dass die feineren Rasterpunkte sich mit den groben meines Kinderportraits überlagern und ineinander spielen.

Manchmal, wenn mir die Einzelheiten der Fotografie vor Augen sind, kommt mir der Text „Bildbeschreibung“ von Heiner Müller in den Sinn. Die winzige Fotografie wird Anlass, über viele verschiedene Szenarien nachzudenken, die vor diesem Hintergrund abgelaufen sein könnten. Die eigene Biografie wird in vielen Teilen mit diesem Bild verbunden.

Expedition

Erneut arbeitete ich an der Fotografie des Elbufers mit Eisgang. Zusammen mit einer veränderten Rasterkorngröße stellte ich ein extremes Querformat her, das ich auf zwei miteinander verbundene Blätter, zum Durchzeichnen ausdruckte. Weil dieser Landschaft noch mal ein ganzes großes Transparentpapierformat mit einem abstrakten Doppelmotiv einer „Synaptischen Kartierung“ gewidmet wurde, stellt sich die Frage, was mich mit ihr so stark verbindet, die mit einer Spiegelreflexkamera aufgenommen und  wahrscheinlich im Jahr 1982 von mir selber entwickelt wurde. Die Schlieren und Dunkelheiten des Abzuges erzeugen eine besondere Ausstrahlung.

In dieser Zeit habe ich einen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt, bekam einen großen Wandbildauftrag und hatte Anne mit in dem  selbstgebauten Atelier.

Die vielen Varianten von Begegnungen dieser stilisierten Flusslandschaft mit dem Selbstportrait als Siebenjähriger, mit Einschlüssen von Fundstücken und verwischten, abstrakten Doppelmotiven, müssen von einem Impuls herrühren, der mir noch verborgen ist, ein weißer Fleck innerhalb der „Synaptischen Kartierung“. Die Expedition zu dieser Landvermessung hat begonnen.

Am Morgen vergrößerte ich noch mal verschiedene Details dieses wichtigen Motivs, wie die Fährboote und eine Möwe, die ich in den nächsten Tagen noch für verschiedene Blätter benutzen möchte.

Jayavarman VII

Hinter den Baumgerippen der blattlosen Robinien am Bahndamm gen Osten und zwischen den glitzernden Schloten des Netzknotens, blendet der Horizont in Erwartung des aufsteigenden Sonnenballs. Darunter fahren die Stadtbahnen leise aufs Land.

Der obere Raum meines neu gewonnenen Ateliers, bekommt als erstes das direkte aufgegangene Licht, das schnell an der Wand und an den Regalen hinunter wandert und in diesem Moment meinen Kopf erreicht.

Gestern lernte ich, dass es Jayavarman VII war, der den Shivakult, also den Hinduismus in der ebene von Angkor durch den Buddhismus ablöste. Unter seiner Regentschaft sind sehr viele Tempelbauten, darunter Angkor Wat und der Bayon entstanden. Die Antlitze in den Türmen sind offensichtlich seinem Portrait entlehnt, stellen ihn vielleicht göttlich als Erleuchteten dar. Aber auch Wasserwege und Reservoire, Brücken und Straßen sind in großer Zahl in dieser Zeit gebaut worden. Gleichzeitig war diese Blüte der Anfang vom Ende der großen Ära dieser Kulturebene.

Ich erinnere mich wie wir viele Tage lang zwischen diesen Steinen schwelgten, die vom Dschungel eingefasst sind.

Gestern entstand noch eine weitere, etwas größere Landschaft mit einer abstrakten Dopplung in Stil der „Synaptischen Kartierungen“. Ich entdecke die Beschränkung auf wenige Mittel und Motive in dieser Arbeit.

CW und die schnell rotierende Zeit

März März – der meteorologische Frühlingsanfang. Den Meisen und Amseln scheint das bekannt zu sein, wenn man ihre akustischen Raumerweiterungen anhört.

Nach einem kurzen Uferspaziergang am Main, waren wir gestern erstmals gemeinsam in der Ausstellung „108 Begegnungen“ im Museum für Angewandte Kunst. Zusammen fallen einem mehr Situationen ein, in denen wir den Stilen, Haltungen und Ausschmückungen schon zwischen Madurai und Angkor begegnet sind. Dort konnten wir die Wanderungen der Formen schon deutlich ausmachen. Die zweite Hälfte der Ausstellung und nahmen wir uns für später vor.

Greifbar vor Augen sind mir jetzt insbesondere die Situationen, in denen ich in den Höfen oder auf den Dächern der Tempel mit dem GPS-Gerät Hände gegangen bin.

Carola schrieb in der FAZ einen Artikel über Christa Wolf und ihren Briefwechsel mit Charlotte Wolff. Die mythischen Dimensionen des Mütterkultes stehen da am Rand und bestimmen in nicht geringer Weise das denkende Geschehen. Es las sich „wie früher“, etwas antiquarisch. Dass es um Christa Wolf so ruhig geworden ist, hat Gründe. Und die liegen in der schneller rotierenden Zeit. Vielleicht braucht es noch ein wenig mehr davon, bis man sich wieder an sie erinnert.

Regiedampf in der Kammer

Unter einen strahlend blauen Himmel verbrannte ich gestern in der Feuerschale weiteren Gartenschnitt vom Sommerflieder neben dem östlichen Rolltor und von Rolands Rosenschneideaktionen. Übernacht stand die Asche im Dauerregen, wonach ich sie auf mein, in roten Sandstein eingefasstes Beet als Dünger schüttete.

Pünktlich ab morgens fünf Uhr trägt der Westwind den Startdonner vom Flughafen herbei. Kein Streiflicht an diesem Sonntagmorgen, das die Gegenstände zum Leben erweckt. Ich muss es selber tun mit den Zeichnungen und den Erinnerungen an gestern.

Mittags gingen wir zu dem Erzeugermarkt auf dem hell beleuchteten Platz der Konstablerwache. Es gab Bratwurst, Kartoffelpuffer mit Grüner Soße und Apfelwein. Gratis war die Enge zwischen den vielen Menschen, die den Sonnenschein suchten.

Der anschließende Spaziergang führte uns zum Osthafen über neu geschaffene Uferwege unterhalb des Neubaus der Europäischen Zentralbank.

Am Abend in den Kammerspielen das Stück „Das Spiel ist aus“ von Jean-Paul Sartre. Mit großem Engagement ist versucht worden, dem antiquierten Text etwas Aktualität abzuringen. Etwas zu viel Video, zu viele Spielebenen, vertikal und horizontal, zu viel Regiedampf, etwas zu lang und humorlos… Dennoch ist es immer ein Erlebnis, die Schauspieler in der kleinen Kammer so nah zu sehen.

Lichtwege | Curry

Das seitliche Licht, flach über dem Horizont, berührt subtil die Sammelsurien in den Regalen, auf den Tischen, wird durch Spiegel umgelenkt und landet frisch in sonst lichtlosen Ecken des Ateliers. Fremder Raum entsteht.

Wieder habe ich an diesem Freitag für meine Kunstschüler gekocht. Ein vegetarisches Curry mit Zwiebeln, Kartoffeln, Erbsen, Tomaten und einem Extra für Paulo, nämlich Mais, würzte ich mit meinem „Jaffna Curry Powder“ aus elf gerösteten Zutaten. Es ist ihnen neu, dass Gemüse alleine so gut schmecken kann. Ich will das nun immer anbieten, weil sie Hunger haben, wenn sie aus der Schule hier ankommen.

Die sich einmal wiederholende Verwischung, eine Geste der „Synaptischen Kartierungen“, zusammen mit der Figur des Herren des Diamantzepters Devajra, habe ich gestern durch die Eislandschaft ergänzt. Das Blatt misst 44 x 33 cm. Die Elblandschaft darin ist 5 x 15 Zentimeter groß und sitzt waagerecht am rechten Rand. Das zeichnete ich mit Joana und Paulo zusammen am Tisch. Das gemeinsame Arbeiten spornt sie an.

Mit frischen Kaffee bin ich nun an meinem Stehtisch vor dem Atelier. Immer noch singen die Amseln. Das Licht wärmt. Morgen ist März.

Blitz | Romantik | Wächter

Vajra, das Diamantenzepter stammt aus der ältesten Phase des Hinduismus und ist eine Attribut des Regengottes Indra. Dessen Blitz, aus dem Zepter geschlagen, führt zur Erleuchtung und ist somit für die Entstehung des Buddhismus mit verantwortlich. Der Vajrapan oder Herr des Diamantenzepters, begleitete die letzte Veränderung des Buddhismus.

Vorgestern in den „108 Begegnungen“ war mir das Zusammentreffen der zwei Religionen noch fremd, aber zeichnete gestern ein Punkterasterabbild dieses Hevajra, wie er auch genannt wird.

Im Nachhinein kam es mir wie eine Reaktion der Zerstörungsvideos von zweitausend Jahre alten assyrischen Wächterfiguren in Ninive durch den“ Islamischen Staat“ vor. Solche kleineren Figuren und ihre ernste Ausstrahlung habe ich in Amman und in Berlin gesehen. Nun ist aber klar, dass sie nirgends sicher sein können, außer in unseren „ungläubigen“ Köpfen, die man ja gerne auch öffentlich abschlägt.

Auch Vajrapan zeichnete ich auf ein Blatt, das schon die Dopplung einer verwischten Figur aufwies, wodurch es nun wieder zu einem Dreiklang gekommen ist. Seine vielen Gesichter schauen in alle Richtungen, wie meine Masken.

Im Städelmuseum sahen wir gestern noch mal Polke und andere neuere Malerei. Meine Rastermalereien folgen eher, im Vergleich zu denen der Sechzigerjahre, einem romantischen Impuls, beinhalten keine Gesellschaftskritik. Sie sind nur biografische Stationen, die aber manchmal wie Kommentare zur Gegenwart daherkommen können.

Dualität und Dreiklang

Die lang gestreckte Zeichnung einer Uferlandschaft mit Booten, einer flachen Insel und Eisschollen, platzierte ich neben die Doppelungen einer Wischzeichnung der letzten Tage. Der eigentliche Plan war, noch den Schelllackeinschluss eines gefundenen Pflanzenteils hinzuzufügen. Wenn ich jetzt aber auf das Format schaue, wie es vor mir mitten im Raum hängt, zweifle ich an der Addition des dritten Elementes. Die Gerollte Wischwiederholung und die Landschaft bilden eine Dualität, die durch die Doppelung des synaptischen Motivs zu einem Dreiklang wird. Diese Spannung würde durch den Fundstückeinschluss verloren gehen.

Die Landschaft alleine besitzt in ihrer dramatischen Menschenleere und ihrer gleichzeitigen stillen Ereignislosigkeit eine romantische Ausstrahlung. Das Geschiebe der Eisschollen, die Boote und die Uferlinien bleiben im Ungefähren, fordern das Hirn zu intensiver Vervollständigungsarbeit auf. Das alles erinnert an eine radierte, zweihundertfünfzig Jahre alte Naturbetrachtung.

Am Abend fand die Eröffnung der Ausstellung „108 Begegnungen“ im Museum für Angewandte Kunst statt. Endlich, nach vier vorausgegangenen Reden, war es dann soweit: ein Wiedersehen mit den Gestaltungen, die ich aus Indien, Thailand und Kambodscha kenne. Die Begegnung mit dem Hinduismus ist manchmal allzu deutlich und fremd. Aber ansonsten habe ich mich zwischen den Skulpturen und Malereien recht zuhause gefühlt. Meine Punktrasterzeichnungen begegnen, in ihren meditativen Herstellungsweisen, den Blicken der Buddhas. Das Einsiedlerleben im Atelier scheint den Einklang mit der Arbeit zu finden.

Sprengung und Startpunkt

Ich beobachte den Punkt, an dem die Sonne über den Horizont kommt. Er wandert jetzt in größer werdenden Schritten nach links. Das Licht zeigt dann verschwenderisch, wie sich die Schichten der Nacht nun im Raum durchleuchtet darstellen. Es deckt Fehler und Vielfalt auf.

Die Verwischungen, die sich mit den Rasterportraits und den Rasterlandschaften übereinander lagern, gehen nun auch Verbindungen mit Fundstückcollagen ein, die vor Jahren innerhalb der Beschäftigung mit Stadtwanderungen entstanden sind.

Zwischen Transparentpapierschichten waren Papierschnipsel, Pflanzenteile und Artefakte des täglichen Stadtmülls geraten, dort von Schelllack eingeschlossen worden. Diese Sammlungen entdecke ich nun als biografische Dokumente.

Im Zentrum des ersten großen Blattes der Arbeit befindet sich jetzt eine solche Collage mit Stichworten des kurzlebigen Medienhypes irgendeines Filmes, eines Spieles oder sonst einer Geldmaschine. Jetzt im Morgenlicht, das von der Seite her auf die bewegte Fläche des durchscheinenden Blattes scheint, ist eine kompositorische Grenze erreicht worden, deren Sprengung den Startpunkt für das Projekt markieren wird.

Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Material zu experimentieren. Ich kann es einfach übereinander legen, dabei vorsichtig verschieben, kann es groß projizieren oder zu einem kleinen Format zusammenschrumpfen lassen. Die Tuschzeichnungen der Rastererinnerungen schieben sich fast gewalttätig in die weichen, gerollten Verwischungen und Wiederholungen der „Synaptischen Kartierungen“.

Biografie, ein Haus im Haus

„Biografie, ein Haus im Haus“ ist der Titel eines Kurzexposes zu einem neuen Projekt. Es war schon eine Weile präsent, verbindet sich nun mit meinen Kunstschülern und dem Museum, reift weiter und soll eine langsame Entwicklung nehmen. Es würde parallel zu meinem eigenen Biografieprojekt entstehen, in das die Schüler mitgenommen werden auf eine Reise in die Welt der eigenen Erinnerungen. Der Arbeitsrhythmus mit ihnen hat sich verändert. Sie kommen gleich nach der Schule, und das ist manchmal schon 12.30 Uhr, und sie bleiben durchaus bis 16.30 Uhr. Nun könnte ich mir vorstellen, das ganze noch auszuweiten, denn sie möchten einfach auch länger bleiben. Mit der doppelten Zeit von 12.30 bis 17.30 Uhr könnte man sich länger konzentrieren und zwei Projekte parallel oder ineinander verschränkt entwickeln.

Am Vormittag sind mehrere großformatige Verwischungen in der Rolltechnik der „Synaptischen Kartierungen“ entstanden, die den Grund für Collagen bieten, zu denen nun Portraits und Landschaften hinzukommen. Oben im Collagenstreifen des heutigen Tages sind Fragmente davon sichtbar.

Vinzenz veröffentlicht manchmal Fotografien aus meiner Kindheit und Jugend, von denen er mir jetzt einige schickte. Diese werde ich als nächste Motive nutzen. Es gäbe auch die Möglichkeit, nur mit dem dokumentarischen Material der Selbstportraits und Landschaften und mit den Verwischungen zu arbeiten.

Ufer | Martyrien

Am südlichen Mainufer, zwischen Städel und dem, dem Westhafen gegenüberliegendem Weg am Fluss, unternahm ich alleine einen Sonntagsspaziergang. Zum Pier des hohen Kohlekraftwerkes hin breitet sich mit dem Hafeneingang eine große Wasserfläche aus. Von dort aus geht in der leichten Wendung des Flusses derzeit die Sonne, im Verlauf der weiten westlichen Fliessrichtung, unter. Ein ähnlicher Effekt, wie in Varanasi, wo er einen heiligen Ort stiftete. Selbst breite Stufen gibt es dort am Main, die in das Wasser führen. Paare gehen spazieren, Männer unterhalten sich oder Frauen zu dritt, Familien machen Picknick auf Bänken und ich gehe mittendrin meiner Neugier nach.

Eine Sportgruppe, die die Stadt als Ertüchtigungsparcour entdeckt hat, kroch die Stufen von der Friedensbrücke bis zum Wasser im Liegestütz hinab, um dort dann, teilweise in voller Montur in den Main zu springen. Zäh, hart und flink stellten sie die Volksgesundheit zur Schau. Windhunde aus Kruppstahl und Leder, etwas widerlich das Ganze, militant, geistlos und brüllend laut.

Mein Kontrastprogramm waren dann die Säle der Alten Meister im Städel, in denen ich mir insbesondere die wenigen frühmittelalterlichen Werke ansah. Ihre Reduziertheit auf wenige wichtige Elemente, die dann aber fein ausgearbeitet neben den eher kanonisch-gleichförmigen Landschaften, Architekturen oder Kleidern stehen, kommen modernen Sichtweisen nahe, oder können als gegenwärtige, adäquate Gestaltungsformen gelten. Mir kam in den Sinn, vor Ort Kompositionslinien zu skizzieren. Allgegenwärtig, die brutalen christlichen Martyrien.

Sonntäglich aber ruhte die Arbeit gestern. Lediglich die Tagebücher verlangten nach ihrer Kontinuität.

Amseln | Angkor

Mit einer Tasse Kaffee gehe ich jetzt, am zeitigen Morgen, den Weg von meinem Atelier in Richtung Südosten. Mit einer Jacke, einer Mütze und einem Schal habe ich genügend Wärme, Zeit und Ruhe, um auf die Gespräche der Amseln zu achten. Sie bilden schon mitten in der Nacht einen akustischen Raum, in dem sich ihre Reviere überschneiden.

Nach der gestrigen Abendveranstaltung. mit einem mittelöstlichen Sänger, ist das Tor verschlossen worden. Zufall, Lernprozess oder ein zu vernachlässigendes Ereignis.

In der Mitte des Tages lese ich zur Geschichte von Angkor Wat, schaue mir einige der vielen Bilder an, die ich dort fotografiert habe. Die Pracht des Dschungels, der die Werke der Khmer umschlingt, die Räume des weichen Monsuns, der über tausend Jahre alte Bodenplatten überschwemmt und uns zum Ausharren unter einer Turmkuppel veranlasst, wo wir eine Sprache mit den Wächtern der Tempel finden.

Die Übersetzung des neuen Romans von Russel Banks mit dem Titel „VERSTOSSEN“ habe ich gestern geschenkt bekommen. Ein Schwergewicht von 542 Seiten, bei Schöffling herausgekommen. Im Klappentext wird, neben dem Autor, auch die Übersetzerin vorgestellt!

In der kommenden Woche möchte ich nun an größere Biografieformate herangehen, mehrschichtig, kompakt und collagenartig,  etwas Farbe (?). Vielleicht besuche ich dafür noch mal die „Affichisten“ in der Schirn.

Biografie, ein Labyrinth

Aus den unter freiem Himmel auf dem Tevesgelände verrottenden Hinterlassenschaften, habe ich einen Metallkessel von Unrat befreit und ihn mit seiner runden Unterseite auf drei der kleinen Sandsteinquader gesetzt, die ebenfalls dort liegen gelassen wurden.

Roland hat auf unserer Wiese, die es wegen des wenig fruchtbaren Untergrundes etwas schwer hat zu wachsen, eine Brombeerhecke entfernt und ihre Wurzeln teilweise ausgegraben. Dieses Material, das in mehreren Haufen auf seine Entsorgung wartete, begann ich mit meinen Jugendlichen in diesem Metallkessel zu verbrennen. Ein Feuer ist immer eine sehr emotionale Angelegenheit. Im Freien kann man dann seinem Bewegungsdrang mehr nachgeben und muss die Flammen schnell füttern, damit sie nicht ausgehen. Das ist ein Ausgleich für das konzentrierte Arbeiten am Tisch.

Trotz des Freitagsworkshops hatte ich Gelegenheit am Biografiethema weiter zu zeichnen. Eine Rasterumrisszeichnung des Portraits meiner Mutter aus dem Jahr 1961 kombinierte ich mit einer Verwischung aus Tusche und Schelllack im Stil der „Synaptischen Kartierungen“ und einer Tanzzeichnung, die ich im Ballettsaal der Forsythecompany im Jahr 2003 gemacht hatte.

Nach einem Treffen gestern im Architekturmuseum geht mir das Thema „Biografie- ein Haus“ durch den Kopf. Mit meinen Jugendlichen arbeite ich ja nun schon im dritten Jahr fest und regelmäßig zusammen. Aus dieser künstlerischen Geschichte würde ich gerne eine architektonische Erinnerung zusammenstellen. Erinnerungselemente werden Architektur, tragende Säulen und Wände, transparente Scheiben und Böden. Ein Labyrinth entsteht.

Decollagen

Die Arbeit am Biografieprojekt setzte ich damit fort, dass ich mich mit mehreren Blättern wieder in die Techniken der „Synaptischen Kartierungen“ einarbeitete. Dabei wurde mir die Reihenfolge klar, die notwendig sein muss, um die Verwischungen aus Tusche, Schelllack und Graphit mit den dokumentarischen Durchzeichnungen von Rasterfotografien, Landschaften und Tanzzeichnungen zusammen zu bringen. Denn die stark vom Zufall abhängigen Verwischungen müssen derzeit am Anfang stehen, damit die anderen Elemente dann in Ruhe und mit kompositorischem Gefühl hinzugesetzt werden können. Würde ich die Reihenfolge ändern, wäre der Effekt radikaler und hätte vielleicht erst später seine Berechtigung.

In diesem Zusammenhang war der gestrige Besuch der Ausstellung „Die Affichisten“, in der Schirn Kunsthalle, eine Inspiration und Bereicherung. Das Zusammenspiel von zufälligen Formen der Decollage und deren Arrangements zeugten von einem Zusammenspiel von traditionellem künstlerischen Handwerk, einem Bezug auf DADA und dem neuen, alte Techniken unterminierendem Gestus der Zerstörung. Besonders die Decollagen der Pariser Künstlergruppe vom Ende der Fünfziger und dem Anfang der Sechzigerjahre, gefielen mir durch ihre gealterte Farbigkeit, die traditionellen, aber abstrakten Kompositionen und in ihrer poetischen Tiefe.

Die Idee entstand, größere collagierte Transparentpapierformate herzustellen, die mit dem Biografiethema zutun haben. Das Zusammenspiel von Zufälligkeit und Komposition hat mich ähnlich berührt, wie das Aufeinandertreffen von Gegenständlichkeit und Abstraktion.

Strukturkombinationen

Im Anschluss an die gestrige Fortführung der autobiografischen Arbeit mit dem Kinderportrait in Kombination mit einer Tanzzeichnung aus dem Jahr 2003, verdichtete ich die choreografischen Linien auf Rolle 6 mit einer „Rolle rückwärts“.

Imprägniert von hundert Jahre altem Angstschweiß entsteht die alte Turnhalle, ein historisierender Holzbau auf dem Schulgelände in Waltershausen, als ein Erinnerungsbild. Dort wurde ich zu einem Boxkampf gegen meinen Freund Andreas gezwungen – eine Marter und ein Trauma.

Indem ich in einem neuen zeichnerischen Ansatz nur die Umrisslinien des vergrößerten Rasterportraits abbildete, ergab sich ein neues Erscheinungsbild, das nun wieder viele neue Möglichkeiten in sich birgt. Ich setzte außerdem auf die unterschiedlichen Strichstärken, die sich daraus ergeben, dass die Feder, wenn sie frisch in die Tusche eingetaucht ist, einen satteren Strich erzeugt, der sich mit fortschreitendem Zeichnen, dünner werdend, fast verliert. Dieser Effekt erzeugt gemeinsam mit den Umrissen der Punkte und Felder eine luftig-wolkige Struktur, die das Raster weicher und fragmentarischer erscheinen lässt.

Auf einem einzelnen Blatt wiederholte ich das Portrait-Tanz-Motiv, um es nun mit Synaptischen Kartierungen kombinieren zu können. Das tat ich zunächst nur, indem ich die Transparentpapiere übereinander legte. Als nächsten Schritt will ich versuchen die Roll- und Wischstrukturen direkt zusätzlich auf das gezeichnete Blatt zu bringen.

Entspricht meinen Vorstellungen

Kratzer auf der Haut meines rechten Handrückens, unterhalb des Daumens, blieben von der Gartenarbeit der letzten Woche. Die Verschorfungen bilden Strichellinien, die rote Ränder hinterlassen, nachdem sie abgefallen sind. Ich kann es während des Schreibens beobachten und könnte es dann später mit einem Wasserfarbenabdruck in anderer Weise festhalten – Autobiografie.

Gestern zeichnete ich nun endlich das Motiv, das mir tagelang durch den Kopf gegangen ist auf Rolle 6. Eine nach rechts weisende Figur (der Ausschnitt oben ist waagegerecht gekontert) ist mit einem anderen fragmentierten Figurenumriss verbunden, unter dem ein abstrakter, raumgreifender Gegenstand sitzt. Punktmuster beziehen sich auf das Rastermotiv des Kinderportraits. Punkte bilden Linien, Felder oder Wolken. Alles ist so, wie ich es wollte, entspricht meinen Vorstellungen.

Nun denke ich darüber nach, wie die Arbeit fortgeführt werden könnte. Zunächst werde ich das Motiv noch einmal durch Zusammenrollen auf Rolle 6 komprimieren. Dann aber will ich es auf ein Einzelblatt übertragen und versuchen mit Synaptischen Kartierungen eine Kombination herzustellen. Das kann mit übereinander gelegten Schichtungen aus Transparentpapier geschehen. Es wäre auch möglich, eine weitere Schicht durch die Rolltechnik mit flüssiger Tusche und Schellack hinzuzufügen.

Stillstand des grauen Lichtes

Stillstand des grauen Lichtes. Einzig im Kreis geht der Sekundenzeiger mit der Zeit nach vorn. Und auch dies rührt von einer hin und her schwingenden Bewegung. Autotüren klappen in ihre Schlösser und Rahmen, der Heizkörper rauscht, weil das heiße Wasser durch einen Kreislauf gepumpt wird.

Mit dem Fahrrad fuhr ich am Morgen bis zum Bethmannpark mit seinem Japanischen Garten. Ich beobachte die Knospen, die Uferlinie des vielgestaltigen Teiches im Verhältnis zu den kleinen Bäumen an seinem Rand.

Sieben Kilometer durch die Stadt und am Fluss entlang. Der leichte Westwind kräuselt das Wasser gegen seine Fließrichtung. Chinesen allenthalben auf der Suche nach Waren und Postkartenansichten. Ich suchte nach neuen Dichtungen für meine Espressokannen.

Ein zweistündiges Gespräch gestern mit Mona in einem Cafe, nach einer Blutentnahme in einer Arztpraxis an der Mainzer Landstraße.

Bin den ganzen Tag kaum zum Arbeiten gekommen und hoffe auf Besserung heute.

Unscharfe Dokumentation | klare Abstraktion

Draußen vor den Rolltoren ist es ungemütlich. Eine graue Hochnebelsuppe beherrscht den Raum und hält die Temperaturen, verbunden mit der Luftfeuchtigkeit in unangenehmer Paarung. Gestern in der Sonne, sah ich erstmalig in diesem Jahr, in meinem Gärtchen eine der kleinen überwinterten Eidechsen, der neuen Generation. Sie trommelte mit ihren Vorderpfoten und wand sich auf kleinem Raum zur Wärme hin.

Seit ein paar Wochen habe ich eine kleine Rollsequenz auf Transparentpapier, aus dem Arbeitskomplex der „Synaptischen Kartierungen“, mit einem kleinen gerasterten Elbeisgang schichtend kombiniert. Zwei steife Klarsichtfolien mit schwarzen Stahlklammern zusammengehalten, bieten den Rahmen, den ich an mehreren Stellen im Raum hängen oder aufstellen kann. Die Rollsequenz besteht aus kleineren Tuschstrukturen und einer sich wiederholenden Figurenszene. Durch den Abdruckvorgang gibt es in der erneuten Abbildung kleinere Ungenauigkeiten, die beim Betrachten des Blattes sehr wichtig werden. Sie stehen auf der oberen Schicht der Collage, während der Eisgang etwas grau und unscharf seine Identität eher verbirgt. Am ehesten wird eine unkonkrete Landschaftlichkeit erkennbar. So entstand also ein Kontrast zwischen unklarer Dokumentation und scharfer, klarer Abstraktion. Beide Elemente bewegen sich aufeinander zu.

Dieser Vorgang hat nun Auswirkungen auf weitere Bilder, die mir im Rahmen des Biografieprojektes durch den Kopf gehen, auf meine Portraits im Zusammenklang mit Ballettzeichnungen, oder anderen Bühnenarbeiten, die es zuhauf in den Schubkästen meiner Grafikschränke oder in Kartons gibt.

So zeichnet man!

In der Morgensonne vor dem Atelier, auf einem Stuhl mit einem Kaffe in den Händen, dachte ich in der Stille, sofern sie am Sonntagmorgen von der Stadt herrühren kann, an den freien Raum. Diese Leere kommt mir in diesem Moment genau richtig vor. Es gibt kein Gesicht, keine Stimme, keine Geste und kein Blick, die mit Anlass zu einem Ärgernis wären. Nur die Perspektivänderung ergäbe eine andere Wuschkonstellation.

Während ich an meinem Frühstückstisch saß, dachte ich daran, mein Rasterportrait mit zwölf Jahre alten Tanzzeichnungen zu verbinden und fragte mich gleichzeitig, ob es nicht genügt, die Idee aufzuschreiben, wie so viele, die nur aufgeschrieben geblieben sind.

Zehn kurze sanfte Songs befinden sich auf dem neuen Dylanalbum, allesamt aus der Feder anderer. Sie begleiten den irritierenden Schatten meiner Feder, der lang gezogen nach Nordwesten zeigt. In der direkten Sonne, spiegelt ein kleines usbekisches Teeschälchen, seine goldenen Ornamentzeichnungen auf die graue Tischplatte, als wolle sie mir sagen: „So zeichnet man!“

Wenn niemandes Wort stört, sondern nur die eigene reduzierte Existenz ein Minimum an äußerer Anstrengung verlangt, lässt sich die Bedeutung der Linien und Farbflächen auf den Seiten meiner Bücher deutlicher spüren. Die Notwendigkeit, eine Gerade aus Indigo und Violett dort hinein zu zeichnen und sie zu verwischen, gewinnt an Gewicht.

Schleppender Rhythmus | Nachtasyl

In der Ferne schlagen schwere Eisenräder auf den Schienenstößen, einen schleppenden Blues-Rhythmus. Die hellen, rauen Hörner der rußigen, steifen, altmodischen Eisenkästen von Rangierloks werden von den tiefen Oktaven fauchender Triebwerke unterlegt. Manchmal ziehen sie im Zweiergespann lange Kesselwagenschlangen in die Höchster Industrieanlagen.

Gorkis „Nachtasyl“ gestern im Bockenheimer Depot mit glühenden Schauspielstudenten. Ich erinnere mich an die DDR-Inszenierungen in den schweren Mänteln des Revolutionsterrors.

Direktes Sonnenlicht scheint auf mich an meinem Schreib- und Zeichenplatz. Sie heilt durch die Pflanzenwand meines vertikalen Gartens hindurch.

Am Vormittag machte ich ein Gartenfeuer, fegte Laub zusammen, grenzte Beete mit behauenen Natursteinen ein, sammelte unbrauchbares Holz zusammen, verbrannte es in Erwartung des Frühlings. Das tat ich alles leichten Herzens im Sonnenschein, allein, ruhig und in Frieden. Die Stille, das Licht, die Ungestörtheit, all das war Balsam.

Druckpresse | Mütze | Form

Auf dem waagerecht aufsitzendem Stellrad meiner Lederpresse, die ich vor etwa fünfunddreißig Jahren von Wilfried Wilke, mit dem mich bildnerisch-musikalische Arbeit verband, geschenkt bekommen habe, um damit Radierungen drucken zu können, sitzt eine Filzmütze aus Mussoorie in Nordindien. Deren zylindrische Form weist ein schön gewebtes Schild auf, das etwa ein Drittel ihres Umfangs einnimmt und normalerweise nach vorne zeigt. Die Art, wie man dieses Schild leicht zur Seite gedreht oder mit einer Ecke eingeklappt trägt, hat wohl bestimmte, vom Träger ausgesendete Bedeutungen, die uns aber während unseres Aufenthalts in dieser ehemaligen englischen Hillstation verborgen blieben. Noch vor vielleicht fünf-sechs Jahren habe ich diese Art von Mützen gerne getragen. Jetzt sind sie mir zu auffällig und haben mit mir immer weniger zutun.

Gleich hinter ihr auf dem Tresen, der meine Schreibnische vom restlichen offenen Raum abtrennt, stand ein ovaler Eimer mit Formteilen eines kleinen Torsos, den ich irgendwann in Ton modelliert und in Gips abgegossen hatte. Die einzelnen Segmente habe ich nun getrennt voneinander in Pappmache abgeformt. Es springt heute nach einer Nacht auf der Heizung wie von selbst aus den Formteilen. Nun kann ich die Figur neu zusammensetzen, indem ich die Einzelteile miteinander verklebe. Ein altes/neues Verfahren.

Am Abend haben wir uns ein paar Alte Meister im Städel angeschaut, Rembrandt, niederländische Landschaften und „Wuselbilder“.

Staubige Ecken

Neben meinem kleinen Schreibtisch in der Nische hinter dem Tresen, der sie seit fünfzehn Jahren an dieser Stelle abtrennt, habe ich eine staubige Ecke mit gerahmten Bildern und Mappen voller Zeichnungen ausgeräumt und gereinigt. Die gerahmten Bilder stapelte ich in die oberen Fächer meines Regals, das den Ruhealkoven vom restlichen Raum abtrennt. Es gab ein Wiedersehen mit gerahmten Transparentpapiercollagen, die ich mit Küstenlinien und gewanderten Kulturgütern herstellte. Sie haben einen zarten, vorläufigen Charakter, der an Zeichnungen der Entdecker vergangener Jahrhunderte erinnert. Andere Zeichnungen legte ich in die Grafikschränke, darunter eine Folienrolle mit Tuschezeichnungen für eine Overheadprojektion zu irgendeiner Bühnenveranstaltung. Die alten Mappen stammten noch aus den Achtzigerjahren und aus den Siebzigern, Damals beherbergten sie die Holzschnittreihe zur „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz oder großformatige Bleistiftzeichnungen.

Während des Verfassens der Berichte über das Projekt „Schattenboxen“, erinnere ich die Verquickung der verschiedenen Themenbereiche der Arbeit des vergangenen Jahres.

Auf meinem Dreieckstisch liegen die Formteile einer kleinen Figur, die ich vielleicht vor zehn Jahren modelliert und abgeformt habe. Ich will nun versuchen, die einzelnen Flächen mit Pappmache auszufüllen, mit festen Rändern zu versehen, um die Einzelteile danach zu einem weiteren Exemplar der Figur zusammenzufügen.

Aber erstmal wieder Sachberichte…

Alte Zeichnungen im Raum

Schon wieder füllen die täglichen Collagen auf der Voranzeige des Ordners auf dem Bildschirm die ganze Seite. Aus den kleinen Abbildungen kann ich herauslesen, auf welche Weise sich die Beschäftigung mit den verschiedenen bildnerischen Themen von einem zum anderen Zentrum verlagert.

Am Morgen habe ich aus einer alten Mappe Zeichnungen herausgezogen, die über zehn Jahre alt sind. Ich kann sie gut zwischen die steifen Klarsichtfolien mit Metallklammern klemmen und in den Raum oder an die Wand hängen. So schaffe ich mir Rückblickrefugien, die sich auf meine derzeitige Arbeitssicht auswirken.

Gestern projizierte ich nur mein sechsjähriges Rasterportrait auf die große Malerei, was mir stimmig vorkam. Wenn ich dazu dann nur noch die Elbe bei Eisgang in die Komposition hineinmontiere, müsste das vielleicht genügen, um das Bild zunächst fertig zu stellen. Vielleicht wäre es dann auch an der Zeit, eine neue Leinwand aufzuspannen.

Für den Rest der Woche habe ich mich um die Sachberichte zum Projekt Schattenboxen zu kümmern. Das überraschte mich gestern, muss aber sein.

Blendung

Nachts, wenn ich auf die Uhr schauen will, um zu wissen, wie lange ich noch ausgestreckt oder zusammengerollt auf meiner Bettstatt ruhen kann, muss ich eine kleine Lampe neben meinen Augen anschalten. Ihr blendendes Licht, das mir einen Überblick über den Zeigerstand und den mir verbleibenden Raum gewährt, leuchtet, wenn ich es wieder ausschalte und die Augen schließe, in ihnen weiter. Zunächst bleibt das Licht weiß – ich beobachte seine Schattierungen, die sich aus der erinnerten Blendung verändern weiter. Nach einem Weißgrau kommt dann ein dunkles Gold, dessen Feld wie ein vergehendes Blattgold schmilzt.

In meine Eremitenklause dringen die Nachrichten der Welt. Zumeist handelt es sich um Kriegsberichte. Mich stört die Vernetzung mit dem hintersten Winkel der Welt und meine Abhängigkeit von der Auswahl der berichteten Ereignisse. Vielleicht wird es in naher Zukunft auch so sein, dass die Nachrichten individuell zusammengestellt werden, für jedermanns Vorlieben und Verfasstheiten.

Ich schalte das Netz ganz gerne aus und bin wieder alleine.

Meine Erkältung geht langsam zurück und im gleichen Maß nimmt die Arbeitsbereitschaft zu. Gestern zeichnete ich Paulo auf die Kalimaske und mich sechsjährig auf die Affenmaske.

Luftanhalten

Jetzt in der Nacht denke ich darüber nach, wie ich den Eisgang auf der Elbe und die Rasterportraits auf das große Bild übertragen kann. Komme da noch zu keiner ernstzunehmenden Lösung. Es stellt sich gleichzeitig die Frage, wie notwendig dieser Arbeitsschritt jetzt ist.

Bin sehr zeitig ins Bett gegangen um eine Erkältung wegzuschlafen, was mir übers Wochenende aus in Ansätzen gelungen ist.

Die nächtliche Stille jetzt ist noch sonntäglich vor dem Montagssturm. Gestern war ich zu früh am Bahnhof und hatte, bevor der Zug ankam noch genügend Zeit die Menschen zu beobachten. Zwanghaftigkeit, Anpassung und Stereotypen, viel Stress und Maske. Bin froh, in dieser Zeit nicht jung zu sein.

Viertel nach Acht bin ich gestern ins Bett gegangen und viertel nach Acht aufgestanden. Zwölf Stunden Schlaf mit einer kurzen Tagebuchunterbrechung. Ich habe das Gefühl. Lange unter Wasser zu sein, den Grund eines imaginären Sees zu durchpflügen. Das Luftanhalten fällt schwer.

Heute wieder Masken, langsam schauen, was geht.

Schneekristalle | Gummidichtungen | Kalkutta

Ich habe nichts dagegen, dass die Zeit schnell verfliegt, licht und flüchtig. Der Schreibtisch ist übersät mit Stiften, Tuschen und allem Kram, den ich für meine Tagebücher benötige.

Unter kristallblauem Himmel waren wir vier Stunden unterwegs im winterlichen Taunus. Wenn sich Schneekristalle im Gegenlicht von den Bäumen lösten, wurden sie vom leichten Wind wie Goldregenschleier verweht. Dann blieben wir stehen und schauten.

Der Sonntag ist trübe. Ich holte die Masken aus den Formen, die nun fast wieder wie von selbst herausspringen. Außerdem experimentiere ich mit den Gummidichtungen meiner Espressokannen herum, die einen unangenehmen Geruch verströmen, den sie auch auf den Kaffee übertragen. So vertrödele ich den Tag, genieße das, weil ich auch etwas erkältet bin.

Ich habe noch mal die Fotos von Kalkutta angeschaut und das Stammhaus des Ordens der Mutter Teresa oben in die Collage eingefügt.

Vor der Tür saß ich gerade etwa eine Viertelstunde in der Sonne und aß eine Mandarine. Es war warm, wie auf den Kanaren.

Gartenarbeit

Sonnenaufgang im Atelier, aus dem eine heilende Kraft hervorgehen sollte. Die Flut einer vergänglichen Stimmung. Als Paulo und ich heute am Gärtchen arbeiteten, Erde in die Lücken zwischen den ausgetopften Bäumchen füllten, entwickelte die Sonne schon etwas Wärme, so dass es uns etwas frühlingshaft wurde. Nun kann es auf der Erdschicht auf dem Beton gedeihen und wachsen.

In meinem Erdhaufen, auf dem die Birke, Weiden und Eichen wachsen, hat sich ein Tier eine Höhle gebaut. Wahrscheinlich ist es dasselbe, das in den Nächten zwischen Rolltor und Balkenskulpturen reuselte. Hoffentlich ist es eine nette Spezies.

Während der Bemalung der Kalimaske mit schwarzem Gesicht und roter Zunge erinnerte ich mich an das Stammhaus von Mutter Teresa in Kalkutta, das in der Nähe des großen Kalitempels an den brausenden Verkehr grenzte. Der Altar, der ein paar Stufen über dem Niveau der Umgebung lag, war bestanden mit Säulen, an denen Haarbüschel und Glocken als Opfergaben hingen. Der frisch gewaschene Betonboden roch nach Blut.

Zwischen den anderen Tierportraitvermischungen macht sich das Gesicht mit seinen drei Augen und der raus gestreckten roten Zunge fremd aus. Die Rasterzeichnungen entsprechen eher einer vorläufigen Unsicherheit, sind nicht fertig, zeigen eine Suche. Mir gehen die Schwünge der Protuberanzen in Verbindung mit den Rastern durch den Kopf.

Tiere

Sterne sind an diesem Morgen am Himmel zu sehen, die sich gegen das Licht der Stadt und des fast noch vollen Mondes durchsetzen können. Bin schon vor Fünf auf und mache meine Tagebucharbeit ohne jede Dämmerung. Nur Lampen, Stadt und Gestirne.

Der Impuls, alle bemalten Masken in die Fensterscheiben der Rolltore zu hängen, folgt der Notwendigkeit, die Rastermalerei auf den bewegten abgeformten Modellierungen aus großer Entfernung anzuschauen. Erst so lassen sich die Formen der plastischen Gesichtslandschaften von Tieren, Göttern und Dämonen mit den aufgemalten Rasterportraits visuell zusammen bringen. Aus unterschiedlichen Entfernungen, Blickwinkeln und in verschiedenen Beleuchtungen haben die skulpturalen Formen oder die Malerei jeweils die Oberhand. Im Idealfall verschmelzen sie miteinander. Bei manchen Exemplaren ist es fast durchgehend so und bei anderen nur von einem einzigen Betrachtungsstandort aus. Während des Beobachtens im Herumgehen, finden dämonische Metamorphosen statt. Mein Kindergesicht auf der Honigsammlermaske, wäre vielleicht für die Abschreckung eines von hinten heranschleichenden Tigers nicht besonders geeignet.

Die Zeichnungen im Tagebuch strukturieren sich wieder neu mit Durchlässigkeiten und ausbrechenden „Protuberanzen“. Sie fügen sich zum Biografiethema.

Hinter meinen Balkenskulpturen vor dem Tor hat sich ein Tier eingenistet und reuselt herum. Nachher mit Paolo werde ich mal nachschauen, was das ist. Die Tauben müssen wir auch noch vertreiben, indem wir ihren Aufenthaltsort hoch oben unter dem Dach über der Tür zunageln.

Tigermaske

Unsere vorgestrigen Misserfolge bei der Maskenherstellung haben wir gestern mit der Produktion einiger unversehrter Exemplare wettgemacht.

Auf eine Tigermaske zeichnete ich ein Halbprofil meiner Mutter aus dem Einschulungsfoto von 1961, das ich die ganze Zeit schon für das Biografieprojekt verwende. Die Projektion dieses Rasterportraits setzte ich so auf die bewegte Oberfläche, dass der Projektionswinkel die Wendung des Kopfes aufhob. Die so erreichte Entzerrung weist aber folglich Fehlstellen auf der abgewandten Seite des Gesichtes auf. Beim Vorbeigehen verwandelt sich auf diese Weise das realistische Abbild von Links zum surrealistischen Zerrbild auf der rechten Seite. Wieder entstand eine eher dämonische Darstellung, die meine Erinnerungen an diese Zeit widerspiegelt.

Auf diesem Weg des plastischen Zeichnens lassen sich weitere Möglichkeiten aufspüren. Das will ich aber jetzt nicht systematisch erforschen, sondern eher spielerisch damit umgehen.

Paulo hat nun die Aufgabe, Mangas auf kleine Pappformate zu zeichnen. Davon soll er eine Reihe von vielleicht dreißig Stück herstellen, damit er in eine Produktionsphase kommt, die ihn gleichzeitig inspiriert. Er arbeitet still und geduldig und macht es mir somit nicht schwer.

Dämonische Ziege

Kalte Luft kommt mit einem Nordostwind zwischen die Häuser der Stadt. Das führt außerdem den Flugverkehr der startend lärmenden Maschinen über das Viertel. Aller Voraussicht nach wird das jetzt vier Tage so bleiben.

Mit den „Geschichten aus der Produktion“ von Heiner Müller in der Tasche meiner Wattejacke, fuhr ich gestern mit dem Fahrrad kurz rüber ins Atelier von Franz, traf dort noch einen Bildhauer, der auch mal in Dresden gelebt und gearbeitet hat und bekam noch einen Kaffee. Dann las ich ihm „Herakles 2 oder die Hydra“ vor. Seine neuen Zeichnungen haben teilweise farbgetränkte Papierknäule als Kompositionsanlass oder lenkendes Gewicht in sich. Sehe sie immer gerne.

Ein gerastertes gegenwärtiges Portrait von mir malte ich auf eine der weiß grundierten Ziegenmasken. Den Raum über meinem Haaransatz mit den Ohren und Hörnern schwärzte ich ein. So entstand ein dämonisches Selbstportrait.

Tagsüber hatten wir Misserfolge bei der Herstellung von Masken. Immer wieder funktioniert das Trennmittel im Zusammenspiel mit dem Schelllack nicht so, dass man die Masken einfach aus den Formen heraus bekommt.

Träume | Spaziergänge | Masken

Der Montag war bestimmt von Verabredungen und Gesprächen. Am Ufer des Mains entlang mit dem Fahrrad – zu warm angezogen und die Rückfahrt im Gegenwind aus Westen. Zehn schöne Minuten im Chinesischen Garten des Bethmannparks. Manche der Reliefs wurden im Streiflicht besonders lebendig. Wenige Minuten saß ich in einem sonnigen Pavillon und genoss die Architektur, die Wasserläufe und die Stimmung, die dieser Zusammenklang in mir auslöste.

Diese Nacht schlief ich nur flach. Träume wurden mir gewahr und ich erinnere mich an einen Schleier, den ich anhob, um darunter ein Medusenhaupt zu entdecken. Die Schlangen waren allerdings nicht die Haare, sondern sie bildeten das Gesicht, wie sich abgestimmt bewegende, dicht beieinander stehende Seeanemonen ein Ballett vollführen.

Paulo kommt pünktlich täglich zu seinem Berufspraktikum. Gestern formte er drei Masken aus und schnitt sich mehrere Pappformate. Sein zeichnerisches Talent paart sich mit einer erzählerischen Fähigkeit, und beides möchte ich ihm helfen zusammen zu fügen.

Spaziergang im Rebstockpark. Man muss die Baustellen der U-Bahn und der Wohngebiete im benachbarten neuen Viertel queren, bevor einen der Park umfängt. Sprechen im Gehen, auf die Wasserfläche schauen, Blesshühner, Gänse, Schwäne, weiter Himmel bis zum weißen Taunus.

Franz las „Herakles II oder die Hydra“. Jetzt will ich es ihm vorlesen, ohne so zu tun, als ob ich den Text verstünde.

„Abstrakter Impressionismus“

Montagmorgen. Draußen beginnt es zu dämmern. Das Licht ist banal. Kalte Feuchtigkeit ist vorherrschend. Summendes Geräusch vom Bahndamm. Gestern Abend der letzte Wein für die nächsten Wochen.

Langer Spaziergang am Main. Es gibt im Westhafen ein neues Cafe mit gemütlichen Sitzecken, Sofas, Sesseln und niedrigen Tischen. Nachdem mir die Kälte durch den Wind an meinen Beinen hochgestiegen war und meinen ganzen Körper erfasste, war dies genau der richtige Ort, um sich aufzuwärmen. Es gibt Kuchen von der Chefin selber gebacken und die Bedienung ist freundlich.

Für die nächsten zehn Tage ist nun mehr Kälte angesagt, der ich etwas entgegensetzen muss.

Nach der etwas anstrengenden Präsentation, ruhte die Arbeit am Sonntag. Die täglichen Zeichnungen bekommen derzeit etwas von „abstraktem Impressionismus“. Das ist neu und reizvoll für mich.

Für das Biografievorhaben benötige ich noch etwas, was mir diese fließende Produktion ermöglicht, die mich beispielsweise bei den „Synaptischen Kartierungen“ getragen hat. Über hundert Blätter von feiner Zartheit.

Masken der Biografie

Erinnerst du dich noch an die Bremserhäuschen, die wie Kabinen an manche der Güterwaggons angebaut waren. Es passte nur ein Mensch dort hinein und gleichzeitig waren sie Sehnsuchtsorte der Hoboträumereien, waren Verheißungen der weiten Welt, wie auch die Bahndämme, auf deren Schienen man die Ohren legen konnte. Es gab nur Dampfloks, deren Feuer man manchmal unten herausschlagen sah.

Die Tische im Atelier, auf denen zwei Tage lang die Forschungsergebnisse zum Zwangsarbeitergedenken ausgebreitet waren, sind nun abgeräumt und werden heute noch abgebaut. Ein paar andere Dinge wandern heute noch hinaus. Dann ist Platz für die neue Arbeit am Biografieprojekt „Masken“.

„Der Tod ist die Maske der Revolution.

Die Revolution ist die Maske des Todes.“

Diese zwei sich entsprechenden Sätze von Heiner Müller standen auf einer meiner Neujahrskarten der Achtzigerjahre.

Nach der Bienensammlermaske will ich nun eine Buddhamaske modellieren. Mein gerastertes Portrait auf allen Masken heißt dann: Ich als Tiger, Affe, Buddha, Honigsammler und Ziege. Es werden mir noch weitere einfallen, und alle haben sie mit meiner Biografie zutun.

Luxus

Nun konnte ich die Honigsammlermaske aus der Form lösen. Sie ist wirklich knochenhart und sehr stabil. Gerade fotografierte ich sie um sie in die heutige Collage oben einzufügen.

Die täglichen Zeichnungen werden weicher und bekommen durch den neuen Brushpen neue Strukturen. Auch mit den Grafikprogrammen, mit denen ich die Collagen zusammensetze gehe ich immer wieder anders um.

Den ersten Ansturm auf meine Eremitenhöhle habe ich nun überstanden. Er fand gestern Abend während der Präsentation der Arbeitsergebnisse der Zwangsarbeiterforschungen statt. Heute Nachmittag findet der zweite Termin statt.

Die Sehnsucht nach dem Alleinsein und der damit verbundenen Konzentrationsmöglichkeit prägt sich immer stärker aus. Die Stille ist ein Klang des Glücks. Die Kaffeemaschine ist meine Freundin. Der Körper aus Aluminiumguss ist in der Taille zwischen Kanne und Druckbehälter, in dem das Wasser erhitzt wird, verschraubt. Ich leiste mir den Luxus vernünftiges Kaffeepulver zu kaufen.

Die Erweiterung meines luxuriösen Lebens ist die Zeit, die ich für meine Arbeit habe. Sie kommt zum Glück der Stille hinzu.

Explosion

Im stahlblauen Morgen zuckte östlich in der fortgeschrittenen Dämmerung ein starker Lichtblitz über dem Bahndamm. Wenige Millisekunden versetzt knallte das Detonationsgeräusch laut und trocken an den umstehenden Häusern entlang. Um auf die andere Seite des Bahndammes zu kommen und Sicht auf die Rückfront des Telehauses zu haben, ging ich nach vorne zur Unterführung. Aber die Sicherheitsleute, die diesen riesigen Netzknoten bewachen, schauten zu den Gleisen hinauf und zuckten nur mit den Schultern, als wollten sie gar nicht wissen, was das jetzt war, ob es ihnen galt oder nicht. Große Zerstörungen scheint die Explosion jedenfalls nicht verursacht zu haben, denn wenig später fuhren Züge auf beiden Gleisen aus beiden Richtungen weiter.

Die Form der Bienensammlermaske aus Nordindien habe ich gestern nachgearbeitet. Die verrutschten Einzelstücke der zerfallenen Maske schufen Assymetrien und Fehlstellen im Abguss, die ich so gut es ging ausglich. Dann strich ich sie mit Schellack und Seife ein, und füllte sie danach mit einer dünnen Schicht Pappmache aus. Heute ist die so entstandene Maske noch nicht ganz getrocknet, sodass ich sie erst morgen herausholen und grundieren werde.

Schnell wechselndes Sonnenlicht tritt jetzt durch den Vertikalgarten an den Fenstern. Gestern drehten wir eine über einstündige Runde im Westerwald. Viel fließendes Wasser, Schlamm, Eis und etwas Schnee.

Gegenstände

Den ganzen Tag gestern haben Paulo und ich aufgeräumt und das Atelier so eingerichtet und gereinigt, dass man die Präsentation zum Fremdarbeitergedenken aufbauen kann. Es ist eine Zäsur, und man wird sehen, wie sich das weiterentwickeln wird. Es sind viele Menschen aus der Forschung und der Politik eingeladen, Presse hat sich angesagt. Mitten in meinem Rückzug ist das keine angenehme Situation für mich. Aber auch dieses Wochenende wird vorbei gehen. Danach ist wieder Zeit für die Konzentration auf die eigenen Themen.

Manchmal krame ich in den Schubladen und ordne Dinge langsam neu. Dabei haben alle Gegenstände ihre Herkunftsorte und verweisen auf Geschichten. Zwei Kartons mit Sachen von mir sind noch nicht ausgeräumt, darunter ein Sammelsurium von Steinen, trockenen Pflanzenteilen, Muschelschalen, Figuren und anderen Fundstücken, die ich in meinem Zimmer auf einem langen Brett angehäuft und untergebracht hatte. Ich dachte schon, sie alle wie einen Wandteppich über meinem Schreib- und Zeichenplatz aufzuhängen.

Wenn die Praktika meiner Schüler vorüber sind, werde ich mit ihnen das neue Thema angehen. Das Folgeprojekt, das nun gefördert wird, heißt: „Dinge, die nicht zusammenpassen“. Gut ist, dass wir für diese ganzen Dinge viel Zeit haben, um sich alles natürlich entwickeln zu lassen.

Bin zeitig auf und fahre gleich noch mal durchs Wetter in den Westerwald.

Maskierungen

In die Morgendämmerung hineinschreiben ist wie aufwachen. Es wurde nicht viel Licht versprochen, aber gestern gegen achtzehn Uhr war es noch nicht ganz dunkel.

Am Wochenende findet im Atelier noch einmal die Präsentation der Zwischenergebnisse der Arbeit zum Gedenken an die Zwangsarbeiter im Lager auf der Ackermannwiese statt. Dafür muss der Raum eingerichtet werden.

Mein gerastertes Selbstportrait setzte ich gestern mit Tusche auf eine weiß grundierte Affenmaske. Ich denke daran eine graue Grundierung und daran, eine andere Rasterfarbe als Schwarz auszuprobieren.

In Nordindien haben wir eine Maske gekauft, die die Honigsammler an ihren Hinterköpfen tragen, damit sie nicht von Tigern hinterrücks angefallen werden. Dieses zarte Plastikgebilde hat sich nun so langsam aufgelöst, weil das Material brüchig geworden ist. Gestern versuchte ich, die Einzelteile so zusammenzufügen, dass sie mit Gips abgegossen werden können. So entstand eine weitere Maskenform, die nun genutzt werden kann.

Am Abend habe ich die alte Videokamera ausgepackt und in Gang gesetzt. Dann sah ich einen Film, den wir im Jahr 2002 in Kanada gedreht hatten. Die Rocky Mountains, Lachse in den Flüssen und Seen, der Pazifik.

Zeichnung und Dokument

Während einer zweieinhalbstündigen Autofahrt in den Westerwald und zurück, schneite es heftig und in den Niederungen ging der Schnee in Regen über. So haben wir das Auto jetzt vollständig gewaschen.

Der Morgen ist hell und Paulo tritt heute sein dreiwöchiges Praktikum bei mir an. Ich habe ihm ein Notizbuch herausgesucht, in das er nun täglich Eintragungen und Zeichnungen machen soll. So kann er sich in seiner Arbeitsweise ein wenig mir angleichen.

Am Nachmittag stellte ich ein aktuelles Rasterportrait von mir her. Mit dem Episkop projizierte ich es auf eine der weiß grundierten Affenmasken. Vielleicht habe ich heute Zeit, es fertig zu stellen.

Das autobiografische Projekt entwickelt sich zu einer umfassenden Arbeit. Die Tagebücher seit 1977 werden mir gute Dienste dabei leisten. Vielleicht kann ich auch das künstlerische Material aus diesem Bereich, also insbesondere Zeichnungen mit zum Erinnern verwenden.

Gestern ein Gespräch über die Präsentation der Zwangsarbeiterforschung und der künstlerischen Arbeit dazu. Die Verbindung zwischen dokumentarischem und zeichnerischem Material ähnelt an diesem Punkt dem Biografieprojekt.

Schwer zu erkennen

Eine der Schülerinnen meines Freitagskurses, hatte die Idee, etwas anderes als Ihr Portrait auf eine der Masken zu projizieren und zu malen. Wir kamen auf eine Birne aus der Obstschale, die wir fotografierten und mit Photoshop grob rasterten. Weil die Frucht schon im Ausdruck auf Papier schwer zu erkennen war, und in der Projektion überhaupt nicht mehr, ließen wir von dem Vorhaben ab, fotografierten ihr Gesicht und verfuhren, wie mit den anderen Masken.

Mir ist dieser Vorgang auch wegen meiner eigenen Arbeit mit den Erinnerungsbildern wichtig. Meinen gestrigen Impuls, den Eisgang auf eine Affenmaske zu malen, setzte ich nicht um, weil ich nicht glaube, dass sich diese Landschaft erkennbar auf der Maske abbilden lässt. Möglich wäre es allerdings das in einem größeren Bildzusammenhang zu machen, in einer Installation in der das Motiv noch mal zweidimensional erscheint. Dann lässt sich der Zusammenhang besser erkennen.

Das große Bild „Eisgang“ fand ich beim Stöbern in alten Unterlagen innerhalb einer Dokumentation des Bilderzyklus „Vier Jahreszeiten“ als selbst entwickelte Schwarzweißfotografie. Die Malerei ist spielerischer und vielgestaltiger als das Landschaftsfoto. Das Herbstmotiv in der vierteiligen Reihe war ein kahles Gesträuch, das ich oft blattlos an der Strecke der Waldbahn zwischen Waltershausen und Gotha gezeichnet hatte. Dort versuchte ich meinen eigenen Zeichenstil zu entwickeln, was mir in gewisser Weise auch gelang. Jedenfalls begleitete mich das Gesträuch durch mein ganzes Arbeitsleben.

Feindsender

Gefrorene Pfützen, schon hell um Acht. Radio aus – Überfall der Stille.

Erinnerung an das Abhören von Feindsendern an der Gulaschkanone eines Lagers an der Westgrenze der Deutschen Demokratischen Republik. Man hat mich nicht so weit an die „Demarkationslinie“ mit Mienenfeldern, Hunden und Selbstschussanlagen heran gelassen. Die „Genossen“ genannten Mitglieder meiner Kompanie bauten den Signalzaun `76. Weiter hinten kümmerte ich mich um die Verpflegung. Da gab es in einem der Zelte ein Transistorradio, das während es sich aufheizte, einen fremdartigen Plastikgeruch ausströmte. Verräterisch war der Signalton der Verkehrsnachrichten des Senders Bayern 3. Den durfte kein Vorgesetzter hören. Die Strafen für das Abhören von Feindsendern wurden willkürlich festgelegt.

Das Biografieprojekt kommt in Gang, ein neuer Prozess. Die Projektion von dokumentarischem Material auf Masken, hat noch eine ganze Menge von Kombinations- und Deutungsmöglichkeiten parat. Das verbindet sich auch mit der Art der Aufarbeitung der Zwangsarbeitergeschichte.

Beim Herumsuchen in älterem Material, fielen mir die Übermalungen namibischer Videostills in die Hände. Sie stammen aus dem Jahr 2000. Die ganze Zeit denke ich daran, auch die Rasterfotomotive mit anderen Zeichnungen zu überarbeiten.

Macht nichts

Die Ziegenmaske, die ich vor ein paar Jahren modelliert hatte, abformte und gelegentlich vervielfältigte, versah ich nun mit dem Portrait des Schulanfängers Frank Reinecke. Die Struktur verschmilzt mit der Skulptur. Das wird deutlich, wenn ich sie ins Fenster hänge und aus sehr großer Entfernung von draußen aus betrachte.

Meine Schüler arbeiten mit ihren eigenen Portraits am selben Thema, auch wenn sie da manchmal an Grenzen der Geduld und Handwerklichkeit stoßen. Es ist nicht so einfach, die Projektion so auszurichten, dass sie mit den plastischen Werten der Maske harmoniert. Und es braucht Ausdauer, dann die Projektion mit dem Bleistift und später mit Tusche zu übertragen. Teilweise gab es auch Hemmungen, sich mit einem Tierkopf zu verbinden.

Am Abend, seit langem, wieder im Theater. Ich merkte, wie sehr ich es in der ganzen Zeit vermisst hatte. Wir sahen „Macht nichts“ von Elfriede Jelinek. Die junge Regisseurin Johanna Wehner nahm den Text mit ihrem Team als Gebrauchsstück. Dem absurden Inhalt, der vier Figuren nach ihrem Tode auf der Suche zeigt, haben sie mit viel Humor eine Wahrheit geschenkt. Das geschieht etwas holzschnitt- und slapstickartig. Aber – macht nichts -, wir amüsierten uns.

Die Tagebücher des ersten Halbjahres 2014 lege ich mir auf mein rundes Tischchen und beginne darin zu lesen. Es gibt poetische Passagen, die sich mit den leichten Zeichnungen verbinden. Und immer hatte ich mir zu viel vorgenommen, sehr viel.

Radiogeräusche | Masken

Aus dem Radio treten Papstreisen, Demonstrationen und Gegendemonstrationen, interstellare Konstellationen und Geldpolitik, Kriege und Friedensverhandlungen, Terroranschläge und Wahlen in meine Eremitenhöhle. Ansonsten rauschen nur die Lüfter der Computer, die S-Bahnen und die Flugzeuge in meine singenden Ohren.

Das Leben auf dem Gelände hat noch nicht begonnen. Keine Dämmerung. Dafür bin ich zu früh auf.

Die Maske meines Vaters hängt über dem Grafikschrank, meinem Gesellenstück. Ich werde sie austauschen, werde sie wieder ins Fenster hängen, damit man aus großer Entfernung das Portrait erkennt.

Die Sequenz „Ufer mit Eisgang“, an der ich gestern weiterarbeitete, ist eine lichte und lockere Angelegenheit. Sie verdeutlicht den musikalischen Rhythmus einer Fuge.

Vinzenz stellt alte Fotos von mir in seine Bildersammlung im Netz. Vielleicht kann ich auch die nutzen.

Keine Sonne gestern, Ostwind und übers Atelier startende Flugzeuge. Die Hindemithschüler kommen heute, und Paulo macht ab Montag ein Berufspraktikum bei mir. Wir werden uns weiter mit den Masken beschäftigen.

Keine rohe Kälte

Noch vor Sieben stecke ich meine Nase vor die Tür. Die östliche, rohe Kälte schlägt trotz des Windes, der aus dieser Richtung kommt, noch nicht durch. Weit entfernt vom Eisgang. Aber mein Körper erinnert sich an die östliche Verrohung und an die niedrigen Temperaturen.

Die Formen der Rasterstruktur sind aus der Nähe zuweilen ganz sanft und erinnern manchmal an die Schwünge der Skulpturen von Hans Arp. Im Falle von „Ufer mit Eisgang“ verfestigen sich die Linien erst aus großer Entfernung zur splitternden Härte der treibenden Schollen. Es sind die horizontalen Kontraste, die das Motiv aus weitem Abstand kenntlich werden lassen.

Umrisslinien des Eisgangsmotives begann ich gestern auf Rolle 6 zu übertragen, übereinander zu rollen, um eine neue Sequenz zu beginnen.

In meinem Kopf verbinden sich die Portraits mit diesem Motiv. Vielleicht kann ich diese Verbindung für das große Bild weiterentwickeln. Es ist möglich, dass ich den Dingen damit auf den Grund gehen kann.

Gestern trank ich einen Bordeaux aus dem Jahr 1996. Im Januar dieses Jahres waren wir in München wegen einer Prüfung. Im damaligen Tagebuch zitiere ich Tabori: „Nur aus Mangel entsteht Schönheit“. Die Lektüremacht mich neugierig auf mehr.

Rasterpunkte

Am Morgen schon ein Gespräch in der Stadt, in der Nähe des Bethmannparks. Weil ich noch etwas Zeit hatte, ging ich dort spazieren. Mitten im Getöse ein Platz der für die Meditation geschaffen zu sein scheint.

Ich lasse die Handschuhe bei den Straßenbahnfahrten an, fürchte mich vor den Bakterienkulturen an den Haltegriffen und Aussteigeknöpfen. Dicke Menschen fallen neben mir in den Sitz und bedrängen mich. Bin das nicht gewöhnt.

Das Rasterportrait meines Vaters zeichnete ich auf eine Maske. Die Plastizität des Tierkopfes verfremdet die Dokumentarstruktur. Je mehr Licht auf die Form fällt, umso undeutlicher wird das Portrait, weil dann die Schatten überhand nehmen. Im Fenster hängend tritt das eher auf als im Atelier. Weitere Masken formte ich aus, überlegte neue, neutralere zu modellieren und verwarf es wieder.

Außerdem projizierte ich am Abend die Rasterpunkte auf meine große Malerei. Dabei beginnen sich Möglichkeiten der Einbindung zu ergeben, die auf Lasuren hinauslaufen.

Wolken ziehen hell nach Westen. Manchmal schimmert etwas Sonnenlicht. Startende Flugzeuge lärmen ab fünf Uhr morgens.

Wer ist es?

Auf der Wiese liegt der Schnee, der aus den Nachtwolken fiel. Meinen Spuren darin traue ich nicht über den Weg. Es sind nicht mehr die meinen. Jetzt lockert die Bewölkung auf.

Keine Erinnerungsbilder gestern, keine Rasterzeichnungen. Weiß nicht was sich da mit den Fotografien zusammen erinnert. Bin ich das?

Ich traue meinen abstrakten Zeichnungen, die nichts wollen als entstehen, die nicht erklärt werden wollen. Sie sind einfach und fächern Farben auf und pendeln zwischen Linienstrukturen und deren Verwischungen. Mehr muss nicht sein. Mir fällt es zunehmend schwer, mit Menschen umzugehen, die das nicht verstehen.

Auf dem Nachbargrundstück, dessen intakte Häuser zugunsten von verdichteter Wohnbebauung abgerissen werden sollen, wird ein Brunnen gebohrt. Sicher werden auch dort, wie auf unserem Gelände, Grundwasserproben genommen, um dessen Verseuchung zu untersuchen. So etwas kann die Arbeiten verzögern.

Lichtphantasien

Krishnababys Bronze bekommt langsam blanke Stellen, weil ich ihn öfters in der Hand halte.

Der Lichtkegel der Architektenlampe brennt ein Loch in die Dunkelheit über dem Schreibtisch. Alle Gegenstände rund herum bleiben von meinem Blick unberührt. Ich warte auf die Dämmerung, bin sehr interessiert am aufkommenden Licht.

Gestern fuhr ich während einer Heimfahrt durch die Stadt im dichten Nebel. Leuchtbuchstaben schwammen am Grund eines Milchsees. Wie in einem U-Boot tastete ich mich an den Straßen entlang. Auf Teves blieb ich allein in meinem Leuchtkastenaquarium.

Die Augen brennen nach innen, weit in den Körper, als wollten sie seine Dunkelheit auflösen über Glasfaserkabel, deren Bündel an manchen Stellen nach außen treten. Wenn ich den Mund öffne blendet es aus meinem Schlund – Fieber.

Aus den letzten Monaten resultiert eine Grundmüdigkeit. Deswegen wahrscheinlich dauernd diese Lichtphantasien.

Enge

Orgelläufe, ein Tenor, Raureif, Nebel, Sonntag. Erst als es schon hell war erwachte ich. Heller wird heut nicht mehr tönt die Silbermannorgel mit den grummelnden Bässen. Sie wird nicht Recht behalten.

Das Atelier wächst an mich heran. Ich messe seinen Raum aus, den ich nun für mich zurück gewonnen habe. Ohne ein Herumräumen, nur durch das Denken, das Arbeiten, durch Konzentration und deren Kontinuität.

Im Heidelberger Stadttheater hatten wir es manchmal mit dem Künstlerneid der Nachbarn zutun, die argwöhnisch beobachteten, ob wir auch genug arbeiteten. Deren Nützlichkeitsmoral, ihre eigene Enge und Unfreiheit stemmten sich gegen die kreative Stimmung und gegen die Lust an der Kunst, die wir dort ausstellen konnten. Dieses gesellschaftliche Phänomen gibt es schon lange und besonders in Deutschland.

Die Wolken lockern auf. Viel indirektes Licht dringt durch meinen vertikalen Garten. Ein Hibiskus, den ich in einem hoffnungslosen Zustand in Pflege genommen habe, beginnt wieder zu treiben.

Bin nachher einerseits verabredet zum Spazieren am Main und andererseits am Abend zur Pizza hier in der Nähe. Alles nett und irgendwie neu…

Meuterei

Kurz vor dem Abitur sind vier Jungs meines Jahrgangs zum Direktor der Berufsschule, wir machten Beruf mit Abitur, einbestellt worden, um in einem Gespräch die Festigkeit ihres Klassenstandpunktes herauszubekommen. „Klassenstandpunkt“ – dieser Begriff ging mir am Morgen durch den Kopf. Wir hätten denen sonst was erzählen können. Taten wir aber nicht, was unsere Zukunftschancen schmälerte.

Während einer vormilitärischen Ausbildung, die im Lehrplan mit inbegriffen war und von der so genannten Gesellschaft für Sport und Technik, einer paramilitärischen Organisation, veranstaltet wurde, gab es eine Befehlsverweigerung und eine anschließende Meuterei. Anlass war irgendeine Ungerechtigkeit, die einem Mitschüler angetan wurde. Eigentlich aber ging es um mehr. In der Tschechoslowakei und vor allem in Polen gab es offenen Widerstand gegen das System der alten Männer. Uns ging es um Meinungs- und Reisefreiheit. Das artikulierten wir dann auch. In einem Marsch wurden wir vom GST-Lager in die Berufsschule des Gummikombinates überführt und dort eingeschlossen. Dort haben uns die „Sicherheitsorgane“ einzeln verhört. Wir sollten zur Unterschrift unter ein Dokument gezwungen werden, das unsere Revolte zurücknahm oder relativierte. Ich war einer von vier Leuten, der die Unterschrift verweigerte und erinnere mich an einen Altstalinisten, der uns während der Diskussion um Reisefreiheit frech ins Gesicht sagte, dass er die Pflicht hätte, uns vor den Gefahren, die im Westen auf uns lauerten, zu bewahren.

Gestern zeichnete ich die gerasterte Landschaft „Ufer mit Eisgang“ auf Rolle 6, und auch mit den Hindemithkindern rasterte ich ihre eigenen Portraits. Die wollen wir dann auf die Masken projizieren und malen.

Hyperrealismus

Wir besuchten gestern die Ausstellung „Die große Illusion“, die noch bis zum ersten März im Liebieghaus zu sehen ist. Einmal mehr haben mich die hyperrealistischen Bestrebungen sowohl der Gegenwart, als auch die von der Antike bis ins neunzehnte Jahrhundert seltsam berührt. Auf peinliche Weise fühle ich mich überinfomiert. So genau wollte ich es gar nicht wissen…

Schon die Kleiderpuppen mit Echthaar, die in italienischen und spanischen Kirchen zu sehen sind, wehen mich als Heiligenfiguren fremd an. Ihre Wirkung auf die Gläubigen, die noch keine Fotografie kannten, war sicher verheerend, was ihren kritischen Geist anging. Volksfrömmigkeit in der Puppenstube.

Morgenspaziergang unter verwischten und künstlich beleuchteten Wolken. Auch meine Bewegung verwischt ihren zeitlichen Ablauf. Das führt mich wieder zu dem, was ich mir für heute vorgenommen habe. Vielleicht kann ich mit der Landschaft mal eine Farbrasterung ausprobieren. Die sollte dann aber vielleicht projiziert und auf eine grundierte Fläche gemalt werden.

Die Elbe bei Eisgang malte ich schon mal vor über dreißig Jahren. Das große Bild war Teil eines Vierjahreszeitenzyklus. Der hängt jetzt in irgendeinem öffentlichen Gebäude.

Gerasterte Erinnerung

Milchiges Licht und Nieselregen. Beim Lesen von Franz Konters Textkanonaden kommt mir der Strand von Salvador da Bahia vor Augen, in meinen Kopf oder mir in den Sinn. Vor einem tropischen Regenschauer flüchteten alle Menschen unter das einzige Zeltdach weit und breit. Es waren so viele Körper eng beieinander, dass ich auf die Idee kam, mit der Videokamera einen Schwenk zu machen. Niemand nahm mir das übel – im Gegenteil.

Die Bänder all dieser Reisen müsste ich noch mal sichten, um weiteres Erinnerungsmaterial auszuwählen.

Es gab eine große Malerei zu Medea – Packpapier auf Nessel -, die ich während eines Vortrages vor Studenten mit meinen Fußspuren grundierte. Es entstehen Erinnerungen von überwucherten Ruinen aus Beton, in denen Verwesung stank und Blüten leuchteten. Kurz nach einem tropischen Guss färbten sich die Wellen der Bucht schwarz von Kolibakterien aus den Abwässern der Favelas. Über den öligen Schaumkronen tanzten die schönen Surfer.

Gestern zeichnete ich das Rasterportrait meiner Mutter. Dafür benutzte ich erstmals einen neuen Tuschepinsel, in den man wie in einen Füller mit Tusche ziehen kann. So ist es möglich, ansatzlos und fließend zu malen, ohne den Pinsel in ein Tuscheglas eintauchen zu müssen. Eine zweite Variante dieses Portraits werde ich heute anfertigen, um mich dann in andere gerasterte Erinnerungen zu begeben.

Ornament | Text | Selbstportrait

Krishnababy besitzt auf seinen bronzenen Fußsohlen, mit Modellierhölzern rasch hingeworfene Ornamente. Auch die linke Hand, mit der sich das krabbelnde Kind aufstützt, weist diese stilisierte Hennamalerei auf. Es handelt sich dabei um vier Kreisbogensegmente, von denen jedes etwa 30° misst. Regelmäßig angeordnet umschreiben sie die vollständige Kreisfigur. Im inneren dieses fragmentierten Kreises befinden sich acht solcher Bögen, die entgegengesetzt ausgerichtet sind und eher voneinander wegstreben und eine Explosion oder eine Ausdehnung abbilden. Ganz in der Mitte befindet sich ein winziger Kreis oder ein Punkt. Dieses Bild ist nun vielfältig interpretierbar. Mit meinem kulturellen Hintergrund sehe ich darin am ehesten einen Zusammenhang von Innen und Außen, von Seele und dem sich ausdehnenden Universum.

Besuch gestern bei Franz. Wir redeten kurz über die Zusammenhänge von Zeichnung und Literatur. Seine Notizbücher mit den Zeichnungen gefallen mir sehr gut. Außerdem ging es um die Geruchserinnerungen, die mit der Zuckertüte der Einschulung zutun haben. Ich schickte ihm den Heraklestext von Heiner Müller.

Auf Rolle 6 zeichnete ich die zweite Variante meines Selbstportraits im Alter von sechs Jahren und fügte einen Teil davon in die heutige Collage ein. Dort verbindet es sich mit den Schlingen und Verwischungen der letzten drei Tage.

1961

Ein halber Mond, Wolkenfetzen schnell und beleuchtet nach Osten wehend, darüber das dunkle Gefäß des Sternenhimmels. Noch keine Dämmerung. Leise und hell ziehen die Stadtbahnen auf dem Horizont des Bahndamms vorüber. Die Güterzüge hingegen lärmen hämmernd, polternd und ratternd. An einem unweiten Signal kommen sie manchmal zum Stehen. Das ist ein langer, quietschender Vorgang. Graffitis und Firmenlogos auf Holzwaggons, Kesselwagen und Containern. Ein Wunder, dass der Damm hält.

Gestern zeichnete ich mein Rasterportrait aus dem Jahr des Mauerbaus Neunzehnhunderteinundsechzig. Kurz zuvor war ich noch in den Ferien bei meiner Großmutter in Westberlin zu Besuch. Dort infizierte mich etwas, das mich nie wieder losließ, ein Fernweh. Die Flieger die damals dicht über Neukölln donnerten um in Tempelhof zu landen, hatten blitzende dicke, von Propellern begleitete Bäuche. Ich sah sie nur kurz über den Straßenschluchten der Altenbracker, und der Schierker. Die Bilder, die sich damals einprägten, sind mir noch sehr gegenwärtig.

Während des Zeichnens hatte ich die Schulbänke der ersten Klasse vor Augen, schwere Tischlerarbeit. Bank und Tisch in einem Stück mit zwei Vertiefungen für Tinte, einem Fach unter der Tischplatte, verdreckt von Staub und Schulbroten. Die Namen der Mitschüler, alle waren wir Jungpioniere, sind heute noch in den Branchenverzeichnissen der Gegend zu finden. Ich erinnere mich nicht an den Dialekt, der gesprochen wurde. Den kenne ich nur von späteren Reisen.

Nähzeug | Sturm | Selbstportrait

Langer Spaziergang gestern über die Baustellen des neu entstehenden Stadtteiles. Sonntäglich leblose Geschäfte, wenige Menschen, viel Wind.

Von der karierten Manschette eines meiner Winterhemden riss mir ein Knopf ab. Den hob ihn gleich auf, steckte ihn in die Brusttasche und nahm mir mein Nähzeug. Es befindet sich in einer kleinen dunkelroten Metallschachtel, die sich wiederum in einer Schublade befindet, die zum Schreibtisch gehört, der in der hinteren Nische des Ateliers steht. Die zwei Zwirnsterne, die Nadel, Sicherheitsnadel und die Knöpfe stammen vom Ganpati Guesthouse, in dem wir direkt neben dem Hauptghat in Varanasi wohnten. Kürzlich druckte ich ein Foto von dort aus und eine Visitenkarte dieses Hotels liegt hier auch noch irgendwo herum.

Das Grundgeräusch dieses Montagmorgens, zwischen den sehsüchtigen Sirenen der Rangierloks und dem Flughafendonner, rührt von dem Sturm her, der in den kahlen Baumkronen faucht. Manchmal neigt sich die große Pappel auf dem westlichen Nachbargrundstück so bedrohlich, dass ich glaube, dass sie das nicht mehr lange, ohne zu stürzen, aushalten wird. Wenn uns dieses Material auf das Gelände fällt, wird es wieder viel Bildhauerarbeit geben.

Heute aber geht es um leichteres Material. Ich werde mein Portrait mit Tusche und Feder auf das Transparentpapier der Rolle 6 übertragen. Zunächst will ich eine freiere Variante ausprobieren, um dann, wie beim vorigen, zu einer strengeren zu kommen.

Widerwillen

Widerwillen – die Fünf im Datum gefällt mir heute nicht.

Ich schiebe die Arbeit am Tagebuch vor mir her, gehe raus in den starken Wind, um mich zu erfrischen und den schnellen Wolken nachzuschauen. Fernweh weht mich an.

Am Schreibtisch ist es mir zu warm – ich habe die falschen Klamotten an. Gestern fünfzehn Grad plus – draußen!

Welchen Erkenntnisgewinn hat das Durchzeichnen der Rasterportraits? Gestern bearbeitete ich mein sechsjähriges Gesicht – leicht geschlossene Lider, etwas schräge Kopfhaltung, Blick nach unten auf die Schuhspitzen, leicht verklärtes Lächeln vor einer dunklen Wand der Gewalt. Vor mir stand das, was ich später hassen sollte – die Schule. Dort gingen Freiheit, Spiel und Glück verloren. Ich erinnere den Gestank von Bohnerwachs und Ausdünstungen, spüre die Stumpfheit der Tafeln und der Kreide.

Das gerasterte Portrait stellte ich in der Collage mit dem meines Vaters zusammen. Dazwischen verwischte Wasserfarben.

Sonntag, das Licht flutet meinen Raum, es zieht mich wieder nach draußen zum Gehen im Wind und in der Sonne. Vielleicht arbeite ich heute mal nicht mehr und hebe mir mein Portrait für morgen auf.

Rasterportraits | Kalschnikow

Gestern zeichnete ich das zweite Rasterportrait fertig auf Rolle 6. Es wurde weniger spielerisch. Ob seine Strenge besser passt, wird man sehen. Immerhin benötigte ich zwei halbe Tage dafür. Als nächstes Möchte ich mich mit meinem Gesicht als Sechsjähriger beschäftigen.

Während der Arbeit hörte ich die Aktualisierungen der Nachrichten zu den Anschlägen in Paris, erinnerte mich an meine Grenzausbildung – Kalaschnikow auseinanderbauen und zusammenbauen auf Zeit, Schießausbildung und an den Bau des Signalzauns an der Grenze. Ich habe mich vom Schießen auf Flüchtige ferngehalten, wurde zum Bau nach Berlin abkommandiert, hatte überhaupt eine Abneigung gegen Waffen. Die Ideologie, die zur Durchsetzung ihrer Ziele tendenziell alle Mittel zur Anwendung brachte, war mit fremd. Das entsprang einer Flower-Power-Tendenz und einer latenten pazifistischen Religiosität.

Ich versuche mir den Attentäter, der in Paris die zwanzigjährige Polizeipraktikantin in den Rücken geschossen und umgebracht hat, als liebenden Familienvater vorzustellen. Mit der Macht seiner Waffe fühlte er sich im Recht.

Im grafischen Kabinett des Städelmuseums sahen wir gestern die Zeichnungen von Raffael und einem Kreis um ihn. Manche der Werke, in denen es eigentlich nur um die Suche nach Lösungen geht, haben eine sehr moderne Ausstrahlung. Mit kreisenden Bewegungen der Feder, gelingen wilde Kompositionen mit schnell hingeworfenen Figuren.

Fahrig

Mit einem weiteren Rasterportrait versuchte ich gestern das autobiografische Vorhaben auf Rolle 6 voranzubringen.

Jetzt am Morgen schiebe ich die Arbeit vor mir her, gehe nach draußen um Vogelfutter aufzuhängen, bin unruhig, trinke Leitungswasser und laufe in Atelier herum. Schon gestern diese Unruhe im Körper, der fahrige Umgang mit dem Zeichenmaterial.

In der Schirn sahen wir Rasterbilder von Sigmar Polke. Sie bestätigen mich darin, auch Landschaften gerastert zu zeichnen. Ansonsten ließen mich viele Arbeiten kalt. Die meiste Intensität geht von den Bildern aus, die von Richter, Vostell und Polke gemalt worden sind. Es gibt beim anlegen des Maßstabs, der die Intensität misst, große Qualitätsunterschiede.

Als wir danach noch einen Wein trinken gingen, trafen wir Franz mit seiner Frau in einer netten Gesprächsrunde. Ich will ihn im Atelier besuchen.

Gestern dachte ich zwischendurch an eine serielle Arbeit mit Masken, die mit Rasterportraitmalereien versehen sind. Falls die Schüler der Hindemithschule ihr Berufspraktikum bei mir machen können, wäre das ein Projekt, das wir gemeinsam verwirklichen sollten.

Rasterwerkzeug

Das Portrait meines Vaters misst auf der winzigen Einschulungsfotografie lediglich fünf mal fünf Millimeter. Diese fünfundzwanzig Quadratmillimeter scannte ich noch mal sehr hochauflösend ein. Mit Photoshop erarbeitete ich dann zwölf Varianten. Mit Weichzeichner, Rasterwerkzeug und anderen Effekten rückte ich der Abbildung zuleibe. Nach dem Ausdruck einer Variante, konnte sie dann auf Rolle 6 übertragen werden.

Das Thema ist die Selbstgewissheit stalinistischer Prägung, die zu einem Machtgefühl anschwillt. Das Parteiabzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands leuchtet mit dem stilisierten Händedruck, der den Zusammenschluss von Kommunistischer und Sozialdemokratischer Partei besiegelte, am Revers. Dieses Zeichen war auch eines der Zugehörigkeit zur Macht, denn „die Partei, die Partei hat immer, immer recht“.

In der katholischen Welt des Eichsfeldes, wo der Jugendwerkhof „Kloster Gerode“ lag, müssen diese sozialistischen Kommunisten Fremdkörper gewesen sein. Während des Durchzeichnens erinnerte ich, wie sich das für einen sechsjährigen Jungen angefühlt hat. Meine Frage damals war: „Was ist, wenn die anderen doch recht haben?“

Nun werden die Experimente mit den Rasterabbildungen fortgeführt. Zunächst weitere Portraits, dann aber auch Landschaften, Räume und Gegenstände.

In den Tag hinein

Mit den Frühaufstehern radelte ich zur Praxis meiner Hausärztin in der Mainzer Landstraße. Dort bekomme ich Spritzen. Die Augen tränten im kalten Wind. Die Ohren waren aufgesperrt für das kreischende Gebrüll der Busse, Kehrmaschinen, Mülllaster, Baufahrzeuge.

Zurück im Atelier fällt als erstes die Stille auf. Am Fenster nehme ich ein Glas städtisches Trinkwasser zu mir. Weit hinten über dem Horizont im Blaugrau des Wolkenmorgens schwimmen zwei orangefarbene Wasserflecken.

Ich denke, dass ich in den Tag hinein lebe. Mal sehn, was heute kommt. Portraits rastern vielleicht. Das ist nicht banal, auch wenn es sich so anhört. Dennoch scheint es mir nicht zwingend zu sein. Aber was wäre derzeit so wichtig, dass es sich nicht auf die lange Bank schieben ließe. Wie lang ist die?

Die Vorteile des Alleinseins legen sich mir auf die Hand. Auch wenn es schön ist gemeinsam zu Abend zu essen, wie gestern.

Die Zuckertütensequenz habe ich nun endlich fertig gezeichnet. Neben die bedrohlichen Verdichtungen setzte ich noch mal das Rastermotiv pur und linear ein, damit der Bezug klar wird. Durch diese Erklärung entsteht eine Deutlichkeit, die das Dokumentarische benötigt.

Kreuzzug und Zuckertüte

Erst gegen Neun sitze ich am Schreibtisch, schlief tief und lange und gönnte mir eine ausführliche Aufwachphase. Dann gehen die Träume in den Zustand über, wo ich sie willentlich gestalten kann. In der Beeinflussung dieser Szenen ist die Verwandtschaft zur künstlerischen Arbeit bemerkbar. Ein rauschähnlicher Zustand in dem sich verschiedenste Ebenen miteinander verbinden, überlagern und verdichten lassen. Bei den Transparentpapiersequenzen kommt hinzu, dass neue Bilder aus dem wiederholt übereinander gezeichneten Material eine neue Wirklichkeit schaffen.

Eine weitere Wendung auf Rolle 6 erzeugte eine zusätzliche Schicht auf der Rückseite der vorangegangenen Zeichnung. Dadurch, dass ich die Rolle von beiden Seiten bearbeite, scheint die Tusche einerseits in einem dunklen Grau durch das Papier, andererseits sind die verdickten Tuschelinien wie schwarze Höhenlinien auf einer Karte und werfen sich auch zu leicht reliefartigen Gestaltungen auf. Dazu kommt die Bewegung des Papiers unter der Feuchtigkeit. Aus den tieferen Schichten der Rolle scheinen noch Linien aus der Kreuzzugssequenz hervor. Sie zeichne ich nun auch noch mit dazu. Durch ihren ganz anderen Charakter liefern sie einen weiteren unabhängigen Rhythmus und verbinden die Figuren teilweise mit dünnen geraden Linien.

Telefonisch bin ich zu einem Klassentreffen eingeladen worden, das in Waltershausen in Thüringen stattfinden wird. Darauf bin ich sehr gespannt. Vielleicht können von dort aus ein paar Bilder aus der Schulzeit mit in meine Arbeit mit eingefügt werden können.

Elbe bei Eisgang

Der große Spiegel ist an diesem Morgen eine Lichtquelle. Zeichnen und schreiben kann ich in einer hellen Flut, die nun von der Sonne, die über den Dunstwolken der Kraftwerke steht ausgesandt wird und durch meinen vertikalen Wald dringt.

Die letzten Tage arbeitete ich langsam und gründlich an der aktuellen Sequenz auf Rolle 6. Ein Stück davon habe ich in die Überlagerungen der heutigen Collage eingebaut. Begleitet werden die Verdichtungen von einem inneren Versenkungs- und Konzentrationsprozess, den sie gleichzeitig protokollieren. Das kommt einer Spiralbewegung nahe. Sie will ich in den Arbeitsraum ausweiten.

Gestern waren wir in der Schirn und sahen die finnische Portraitkünstlerin Schjerfbeck. Ich bin eigentlich nur mitgegangen, hatte die Ausstellung schon einmal gesehen und erfreute mich erneut an der noblen zurückhaltenden Farbigkeit, die besonders in den Selbstportraits vorherrscht.

Immer mal schaue ich von der Seite auf das große Bild, das ich wieder in Angriff nehmen will. Vielleicht gibt es noch mehr Dokumentarmaterial, das ich dort gerastert einbauen kann. Nur die Gesichter auf dem Einschulungsfoto sind etwas zu wenig. Es gibt da noch die Elbe bei Eisgang, was allerdings in diesem Zusammenhang etwas zu abstrakt wäre. Ich muss einfach ein paar Versuche starten.

Zeichnungen | Beleuchtungen | Erinnerungen

Über einem vereisten Boden, der Schneematsch von gestern Abend ist gefroren, steht ein dunkelblauer Sternenhimmel. Östlich, über einem Horizont mit wenigen Wolken, dämmert ein Blaugrau mit Grünanteilen. Ich frage mich ob ich die Farben meiner Zeichnungen in diese morgendlichen Farbspiele hineinsehe, ob sie von daher stammen oder ob beides gleichzeitig möglich ist. Später treten die rosafarbenen Wolken in den Vordergrund, wie das Geschrei spielender Kinder.

Einen großen Spiegel habe ich mit der Staffelei so im Raum platziert, dass ich durch den großen Ficus, eine Sukkulente und den Olivenbaum, vom Schreibtisch aus diese Beleuchtungen beobachten kann. Außerdem überblicke ich, während die Heizung im Rücken rauscht, die Straße, um die Boten abzufangen, die gerne unverrichteter Dinge wieder abziehen, weil sie sich auf dem Gelände nicht so recht auskennen.

Noch einmal verdichtete ich die Familienfigur auf der Zuckertütensequenz auf Rolle 6. Die wächst zu einem bedrohlichen Monster heran und sorgt für eine düstere Erinnerungsstimmung.

Weiterhin bleiben die täglichen Zeichnungen in den Büchern wichtig. Seit einiger Zeit denke ich darüber nach, sie wieder in die Arbeit auf Transparentpapier mit einzubeziehen. Es würde mir gefallen, wenn sie sich mit ihren Schlingen, Schlaufen und Verwischungen mit dem Erinnerungsthema verbänden.

Windrichtungen und Sounds

Am Morgen schließe ich das Tor unter der Unterführung für den Briefträger und andere Boten, für die Müllabfuhr und für Besuche auf. Von Westen her donnert der Lärm von der Autobahn, die immerhin noch über einen Kilometer entfernt ist. Das mischt sich mit dem Getöse der startenden Flugzeuge. Die Signalhörner der Rangier- und Güterlokomotiven klingen wie ferne Tierschreie. Und aus den Gesträuchen des Bahndammes tönte ein hüfender eigenartiger Morgengesang eines Vogels, den ich dann als Elster erkannte. Seinen fast melodiösen Gesang, nunmehr von den Drähten über den Schienen her, hätte ich nicht mit dem Gekrächze zusammengebracht, das diese oft paarweise umherstreifenden Vögel sonst von sich geben.

Man könnte aus den Sounds der verschiedenen Windrichtungen einen Tonraum konstruieren.

Den ganzen Tag bearbeitete ich gestern die Zuckertütensequenz auf Rolle 6. Langsam bekommen die Figuren etwas Bedrohliches. Alles konzentriert sich überlagernd zu einer einzigen Figur einer Familie, die sich dauernd wiederholt.

Die Hindemithkinder waren in kleiner Ferienbesetzung da. Es wurden Porträts gemalt und Pappmache hergestellt, mit dem zwei Masken ausgeformt worden sind.

Häfen

Bevor das große Regengebiet eintraf, das uns heute den ganzen Tag mit Wasser von oben versorgen wird, habe ich gestern statt eines Neujahrspazierganges eine kleine Fahrradtour unternommen. Ich fuhr vom Atelier aus in den Osthafen. Dort schaute ich mir mal in Ruhe die neue Europäische Zentralbank an. Ich sah die Kuben, die in die alte Großmarkthalle geschoben worden sind und die Außenanlagen mit der festungsartigen Sicherheitsarchitektur, die an eine mittelalterliche Wehranlage mit Mauern, Gräben und Aussichtstürmen, die nun von Videoüberwachungsmasten ersetzt werden, erinnert. Weiter hinten am Hafen gibt es immer noch Industrieansiedlungen, die noch nicht vom Chic der Hanauer Landstrasse verdrängt worden sind. Nun bin ich gespannt, ob ich es noch erleben werde, dass dort Nobelwohnungen gebaut werden. Zum Spazieren wäre es allemal angenehmer.

Obwohl das große Kohlekraftwerk in Westhafen noch steht, hat sich das Gebiet mit Wohnungen und Büros stark verändert und ist dadurch viel schöner geworden.

Wie immer an Neujahrstag war das Mainufer mit Feuerwerksmüll übersät. Das schränkt den Spaß, dort entlang zu fahren etwas ein.

Meine ganze künstlerische Energie geht derzeit in die täglichen Zeichnungen. Sie tragen, so klein sie sind, die Kraft und Sehnsucht in sich, die sich zum Weiterarbeiten bedingen.

In zerstäubter Milch

In der Annahme, dass ich nun lange die Zahl Fünf täglich in meine Bücher schreiben werde, tat ich es heute erstmalig in diesem Jahr. Die Linien haben ihre eigene Dynamik. Die erste nach unten fahrende Senkrechte holt Schwung für den ausbauchenden Bogen nach vorne, also nach rechts. Dann geht die Bewegung der Schreibfeder wieder rund nach unten und nach links mit einer kleinen, schon auf die nächste Linie zielenden Aufwärtstendenz, setzt ab und kommt wieder zum Anfang zurück. Der kurze waagerechte Strich, der dann folgt geht schon wieder energisch nach vorne in Richtung Zukunft. Handschrift schreiben, heißt Zeit sichtbar machen. Mit jedem Wort, das aus der Feder schwimmt, verrinnen die Sekunden, in denen ich festhalten will, was ich denke. So will ich meine Zeit festhalten, während sie mir entgleitet.

Silvester verbrachte ich alleine auf Teves, spielte etwas Gitarre und sah mir Aufnahmen von „THE PIANO HAS BEEN DRINKING“, von deren letztem Konzert an. War froh als es Zwölf war und fiel ins Bett, das weiche, schöne Kölsch der Band im Kopf.

Es ist still draußen und neblig – verdünnte, zerstäubte Milch. Selbst der Flughafen scheint außer Betrieb zu sein. Das Tor vorne ist verschlossen, dass sich auch kein Spaziergänger hierher verirrt. So kann ich für mich die Zurückgezogenheit ausweiten, hier hinten in meiner Schreibklause bei mir bleiben. Die Stille übernimmt, kein Warten mehr.

Aufräumen

Der niedrige Sonnenstand färbt die feuchte Atmosphäre über den Schneeresten mit grauem Licht. In der kommenden Nacht wird man dagegen mit Feuerwerken angehen. Ich hingegen wünsche mir eher das innere Feuer, das der Tristesse entgegentreten kann.

Bis in den Abend zeichnete ich an der Zuckertütensequenz auf Rolle 6. Außerdem räumte ich in den Regalen herum, den Gitarrenverstärker in ein Fach und schaffte somit etwas mehr Fußraum.

Heute will ich noch mehr aufräumen, Raum organisieren, reinigen und Müll wegbringen. Das sind die richtigen Beschäftigungen für den letzten Tag eines Jahres.

Perspektiven

Lichtinstallationen, wie sie in letzter Zeit inflationär erscheinen, stellen häufig architektonische oder skulpturale Konzepte auf den Kopf. Gesimse, die für einen Lichteinfall von schräg oben gestaltet sind, verlieren von unten angestrahlt ihre ästhetische Funktion. Da ist viel Dilletantismus unterwegs. Schade, denn mit mehr ästhetischem Gefühl ließe sich daraus was machen.

Das Vakuum dieser Zeit zwischen den Jahren lässt sich von mir nicht so recht füllen. Vielleicht sollte ich einfach diese Leere zulassen. Leichter gesagt, als getan. Das Zeichnen auf Rolle 6 wirkt meditativ. Dazu höre ich manchmal aus dem Netz Bach Radio.

Die Kälte ist vorbei. Tagsüber erreicht die Temperatur wieder Plusgrade. Das wirkt sich auch auf die Wärme im Atelier aus. Draußen ist es allerdings dadurch feuchter und unangenehmer.

In den letzten Tagen dachte ich daran, wie man willentlich eine bessere Stimmung herzustellen vermag. Situationen, auf die man sich gefreut hat, werden so nicht zu Enttäuschungen, die man sich selbst bereitet.

Ein Espresso, den man für sich selbst macht, vielleicht mit viel Zucker und etwas Sahne ist ein Ansporn. Du machst das für Dich alleine, keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig Raum gewinnen für das Nachdenken aus anderen Perspektiven, aus den Perspektiven der Anderen.

Licht | Stille

Am Main genoss ich die Reflektionen der vom Ostwind gekräuselten Wasserfläche und die Lichtspiele in den gefrorenen Wassertropfen. In meiner Daunenjacke mit der dicken Kapuze kann ich den kalten Wind gut aushalten und Licht tanken.

Eine Figur, die ich während meiner Spaziergänge an der Außenfassade der Leonhardskirche entdeckte, scheint neueren Datums zu sein. Ihre Züge und ihre Haltung haben einen expressionistischen Einschlag. Es handelt sich um eine Heilige mit einer Kette in der Hand, deren Identität mir noch nicht klar ist. Auch im Innenraum gibt es expressionistische Figuren. Die Glocken, die sonntäglich läuteten, sind abgestimmt auf das ganze Stadtgeläut, wie es Heiligabend zu hören war.

In der Birke zwischen meinen Toren habe ich nun etwas Vogelfutter und das Nisthäuschen, das mir Anne zu Weihnachten schenkte aufgehängt. Die Meisen haben das Futter nun schon entdeckt und schauen auch neugierig in die neu erschienene Nesthöhle. Vielleicht wird sie im Frühjahr belebt sein.

Kurzer Besuch von Barbara und Roland. Ich zeigte ihnen mein Krishnababy und die Postkarte mit den fünf Rathas aus Mamallapuram. Sie interessieren sich nach wie vor für Indien und werden auch noch mal hinfahren. Auch ich würde das gerne bald tun.

Nachmittags zeichnete ich weiter an der Zuckertütensequenz auf Rolle 6.

Voreinstellungen

Sonntag. Es ist etwas Schnee gefallen, der am Abend matschig, nass und glitschig die Stadt bedeckte. In der Nacht ist er festgefroren und leuchtet nun, an diesen hellen Wintermorgen in der Sonne. Licht im Überfluss projiziert die Umrisse des vertikalen Gartens vor den Fenstern auf alle Gegenstände im Atelier.

Gestern Abend ging ich noch über die Frankenallee spazieren. Im hellen Fenster sah ich mein Bild Waldherzen an der Wand meiner ehemaligen Wohnung. Auf dem Heimweg hielt ich an der Rebstockkneipe auf ein Bier. Ich wurde Zeuge einer abklingenden Schlägerei. Die Polen scheinen alle zu Hause unter dem Weihnachtsbaum zu sitzen. So waren fast nur Marokkaner da.

Die Glocken läuten. Susan Sontag ist heute zehn Jahre tot, das Licht streift seitlich über meine Reliefs und erweckt sie zu neuem Leben.

David Foster Wallace spricht von unseren Denkvoreinstellungen, die uns das tägliche Leben zur Hölle machen können. Die Maske dieser Hölle sah ich am ersten Weihnachtstag.

Sein Denken zu kontrollieren, bedeutet zunächst die Trägheit zu überwinden, den Voreinstellungen zu folgen. Das ist der Startschuss einer Praxis, die zu einem anderen Lebensglück führen kann. Aber dieser Anfang muss erst mal gemacht werden.

Gefängniszelle

Neben dem Atelier treibt Schneeregen unters Dach. Ein lichtloses Wasser-Luft-Gemisch sitzt auf der grummelnden Stadt.

Gestern ging ich noch vor einem weiten Horizont spazieren. Hinter den Bergen des Taunus türmten sich Wasserdampfgebirge nördlich, Schneeschauergardienen wurden zugezogen und Lichtstreifen zeichneten daneben ausgefranste Panoramen. Die aufgewühlte Erde der Baustellen glänzte morastig und unfruchtbar.

S-Bahnen auf dem Bahndamm bringen die wenigen Menschen in die Stadt, die heute dort arbeiten, Geschenkgutscheine einlösen oder Geschenke umtauschen wollen. Die Verteilung der Feiertage funktioniert in diesem Jahr wie ein Vuakuumiergerät. Leere, Stillstand und Lähmung.

Als Weihnachtsgeschenk war eine gedruckte Rede von David Foster Wallace getarnt, die eine Anleitung zum Erlernen neuen Denkens darstellt. Ich habe schon einiges gelesen und finde den Text sehr hilfreich für meine Situation. In einem Satz heißt es:

“…eine Engstirnigkeit, die wie eine Gefängniszelle so absolut ist, dass der Häftling nicht einmal merkt, dass es eingesperrt ist.“ Schön – oder ?

Heimkehr

Von den Lichtstimmungen in den von hinten durchschienen Nebelbänken, Schneeschauern und Wolkenwirbeln, kommt etwas in den heutigen Zeichnungen vor. Manchmal möchte ich auf der Autobahn in den Bergen anhalten, um mir diese grandiosen Beleuchtungen in den bewegten Landschaften in Ruhe anzuschauen.

Noch am Vormittag bin ich von meinem Besuch in Thüringen zurückgekehrt. Ich war froh, wieder in mein Atelier zu kommen, wovor ich mich eigentlich etwas gefürchtet hatte, der weihnachtlichen Einsamkeit wegen. Aber die Umgebung meiner Arbeit stimmte mich eher froh.

Afrikanische Partys, die alle Festlichkeiten mit Technolärm bis morgens sechs Uhr verbinden, haben auf dem Gelände ihre Verwüstungen hinterlassen. Schrecklicherweise ist das Schnellrestaurant in der Nachbarschaft wieder offen, dessen Speisenverpackungsmüll bis vor meine Tür quillt. Diese Servietten-, Plastik- und Kartonwegwerfkultur hat etwas von antiästhetischem Auswurf. Ich kann das nur schwer ertragen.

Das Vogelhaus, das mir Anne zu Weihnachten schenkte, werde ich in meine Birke zwischen den Rolltoren hängen. Guter Plan?

Stadtgeläut

Ein Sternenmorgen durch dessen Dunst die Gestirne etwas weicher leuchten. Schneefall ist angesagt, weswegen ich aus Thüringen morgen früher nach Hause aufbrechen werde.

Als ich mich gestern zum Zeichnen hinsetzte, war ich so vertieft, dass ich beinahe das Weihnachtsläuten in der Stadt verpasst hätte, das schon fünf Uhr nachmittags beginnt. So führte mich mein Gang von Mainufer her in das Läuten hinein, geleitet vom silbrigen Geläut des Karmeliterklosters hin zu den fröhlichen Glocken der Leonhardskirche vor den Dom. Da der freie Platz der Ausgrabungsstätte nun mit einem Puppenstubenstadthaus zugebaut ist, lehnte ich mich mit meinem Rücken an den großen Glockenturm, um die Gloriosa zu spüren. So beginnt Weihnachten.

Der Weg zurück durch Regen, vorbei an den erleuchteten Fenstern der Bescherungsstuben. Im Atelier dann packte ich das Weihnachtspaket von Anne und Markus aus. Viele nette Dinge, die mir den heiligen Abend verschönten.

Ich habe noch etwas Lachs im Tiefkühlfach, den man zusammen mit Schrimps zu einer Spaghettisauce verarbeiten können. Gleich fahre ich los zu meinen Eltern – eine Weihnachtsfahrt.

Reden | Reisen | Neubeginn

Gestern sah ich  noch mal die zwei indischen Ausstellungen im MMK.  Die Dinge, die Gupta gesammelt hat, sind in eine europäische Kunstordnung gebracht worden, wie überhaupt alles original Indische mit dem westlichen Blick installiert ist.

Im Bahnhofsviertel besuchte ich asiatische Läden auf der Suche nach einem bestimmten Curry, das ich dann gleich mit Hühnchen und Reis ausprobierte. Eine Portion ist noch für heute übrig geblieben.

Heiligabend werde ich heute alleine verbringen. Während des großen Stadtgeläuts habe ich dann Gelegenheit, dieses Jahr noch mal zu überdenken.

Freue mich auf den Neubeginn im kommenden Jahr.

Kaufe nachher noch ein paar Lebensmittel ein, Vielleicht zeichne ich auch noch ein wenig auf Rolle 6. Morgen eine Reise zu meinen Eltern.

Braune Gischt

Viel Schlamm trieb schnell im angeschwollenen Main gegen die Richtung des gestrigen Sturmes. Der schob Wellen vor sich her, die man sonst nur von Meeresgewässern kennt. Die Schiffe, die gegen den Wind fuhren wühlten hohe braune Gischt auf.

Die täglichen Zeichnungen, an denen ich mich festhalte, nehmen nun wieder mehr konkrete Linien auf. Das ging mit den Protuberanzen los und führt nun eher zu Geflechten, die Elemente bieten, mit denen ich die Collagen nun etwas reicher und farbig interessanter gestalten kann. Einige Collagetechniken erschlossen sich mir neu und führen auch zu anderen, weicheren Ergebnissen.

Ich zeichnete an der aktuellen Sequenz auf Rolle 6 weiter. Diese Rolle wird die vielleicht dichteste, die ich bisher anfertigte und ist wahrscheinlich auch die, an der ich am längsten gezeichnet habe.

In der Rebstöcker Straße, neben dem Schnellrestaurant blüht rosafarben ein Baum. Die Temperaturen sind derzeit sehr mild, was sich nach Weihnachten ändern wird.