Im Lichtkegel

Die vielen Tanzbilder, die irgendwo in meinen Erinnerungen leben, führen meinen Sinn immer wieder in figürliche Bereiche. Der Anklang einer Plastizität lässt meistens zu organisches Formenmaterial entstehen. Ich kann mich lange in eine selbst hergestellte oder vorgegebene Struktur vertiefen, um in ihr Geschichten zu finden. Zu Hause an meinem Schreibtisch, der vor einer Wand in einem sehr hellen, kleinen Lichtkegel steht, gelingt mir das leicht. Alles rund herum scheint in einer Dunkelheit zu sitzen. Das Licht auf den Seiten leuchtet dann in mich hinein.

An den Buchmalereien könnte ich immer lange weiterarbeiten, was sie nicht unbedingt besser machen würde. Ich denke an einen spitzen Bleistift, mit dem ich die Linien der Fingerabdrücke aufnehmen, umreißen und zu Skulpturen machen würde. Das kann fern von konkreten Gegenständen sein.

Die Tanzlinie beeinflusst auch die Buchmalereien. Es gibt mehr fragmentarische Umrisslinien, deren offene Konturen von einer anderen, gegenüberliegenden Linie, aufgefangen werden, wie bei den Duetten unserer Tanzimprovisationen. Ich der Nacht fiel mir ein, wie es mit den Verdichtungen weitergehen kann. Nach weiteren partiellen Schichtungen folgen Auskopplungen einzelner Figuren.

Wörterregen

Bei der Vervollständigung der Figurenumrisse auf Rolle 11 stelle ich eine Gleichmäßigkeit fest, eine Routine. Erwartbar tritt der Reigen der Tanzenden auf. Zunächst entstand etwas anderes als ich mir vorgestellt habe, was aber in eine Gleichförmigkeit glitt, die ich nun von innen heraus brechen möchte.

In den Buchmalereien versammeln sich ebenfalls Figurenandeutungen, die aus den Abdrücken auftauchen. Die rechte Zeigefingerkuppe bildet plastische Köpfe über Mantelarchitekturen. Die Spitzen der Farbstifte tasten sich vorsichtig an den Rändern der Vulkansteine und deren Gasblasen entlang. Manchmal entsteht eine Geste: Jemand in Rokokoverzierungen hält sich hoch erhobenen Hauptes einen Handspiegel oder ein Handy vor sein Gesicht. Die zwei alten Häuser daneben zucken nur mit den Schultern. Sie sind Selfie -ungeübt.

Es gibt in der zweiten Malerei des Tages eine Regenwaldformation, die Figuren und Gestein überwuchert. Diese Schichten von Handlinien, Steinstrukturen und grünen Zeichnungsgeflechten werden von Wasser verwischt. Worte dampfen durch die Gesträuche, schlängeln sich an den Ästen hinauf und tropfen zurück auf den Boden. Im Fallen singen sie den Klang ihrer Buchstaben. Aber auch aus Textwolken fällt Wörterregen.

Dialogräume

Aus der Tanzlinie entwickeln sich neue Figuren. Beim Mitzeichnen der Choreografie „Undertainment“ mit einer durchgehenden Linie, gelangen naturgemäß nur fragmentarische Umrisse der ich bewegenden Company. Die offene Seite der Figuren wird nun durch die teilweise Überlagerung mit anderen Bereichen der „Mitschrift“ vervollständigt. Es ist, als ob das angebotene improvisierte Bewegungsmuster von einer anderen Figur, einem anderen Teilumriss beantwortet und ergänzt wird, sich also der Umriss schließt.

Verschiedene Ebenen der Werktagscollagen bilden zurzeit Dialogräume zwischen dem Tanzpersonal der Transparentpapierrolle aus Tuschelinien und den Umrisswesen, die sich in den Strukturen der Buchmalereien manifestieren. Eine Szenerie von hintereinander hängenden Projektionen und realen Bühnenfiguren, die aufeinander reagieren.

Der Abdruck eines hellen, ovalen Lavakiesels, krakelige Papiergravuren, die durch eine Farbstiftschicht aus Suchlinien sichtbar wurden, bildeten den Beginn des Bildertages. Ich vertiefte mich in die kleinen Areale, um vielschichtige, transparente Absichten zu erzeugen, die beim näheren Hinsehen neue Welten zur Entdeckung preisgeben.

Aus der digitalen Dunkelheit

Ein drittes Mal zeichnete ich gestern die Tanzlinie auf Rolle 11. Die erste diente der starken Überlagerungen, die zweite bleibt unverändert und mit der dritten begann ich wenige, moderate Verdichtungen zu schichten. Diese können sich an einigen Stellen noch konzentrieren, dass deutlich wird, wie die Linie mit den entstehenden Mustern zusammenhängt. Nach ein paar Tagen Abstinenz, war ich wieder am richtigen Platz.

In den Buchmalereien folgte ich den Zeichnungsbewegungen, die ich mir vor knapp fünfzig Jahren zeichnend, vor einem Gesträuch sitzend, erarbeitet habe. Das ist ein suchender, unruhiger Strich, der sich nun mit Farbstiften in die Steinstrukturen hineinbegibt, um manche Partien zu verstärken, zu überdecken oder fortzuschreiben. Immer mal gleite ich wieder in diese Arbeitsweise, und auch auf den Transparentpapierrollen begleiten mich die sich verschränkenden Liniengeflechte.

Bei den Konturlinien, die ich um die Abdrücke herumzeichnete, dachte ich schon an die hellen Farbstrukturen, die in den täglichen Collagen aus der digitalen Dunkelheit herausstrahlen werden. Und heute kommen auch wieder die Linienüberlagerungen von Rolle 11 dazu. Wie wäre es, die geschichteten Bildentwicklungen in einer Animation aneinander zu hängen?

Kraftfeldtisch

Positive Reaktion auf unser Diktaturen – Vorhaben aus dem Dezernat für Kultur und Wissenschaft. Mit einer Ansprechpartnerin können wir es nun konkreter fassen und vorbereiten, um eine Richtung vorzugeben. Zunächst geht es um unsere eigene Geschichte und die Arbeit, die daraus entstanden ist. Dann aber sollte das Projekt mit weiteren Künstlern fortgeführt werden.

Um an der Zukunft von Teves West weiter zu arbeiten, muss ich den Kontakt zum Planungsamt halten. Außerdem will ich ein Logo für uns entwickeln mit den Buchstaben TW. Und gestern Nachmittag kümmerte ich mich um Abrechnungen, indem ich versuchte die abstrakte Bürokratie zu verstehen.

Im Atelier ordnete ich den Kraftfeldtisch. Ich zelebriere dort die Tanzlinie pur und mit ihren ausufernden Schichtungen. Ich merke, dass ich die Projekte nicht nur theoretisch-textlich weiter vorbereiten kann. Zumindest das Zeichnen gehört dazu. Dann bin ich wieder auf Rolle 11.

Widerstreitend

Von den Vorgängen, die die Tanzlinie auf Rolle 11 begleiten, hielt ich mich gestern fern. Stattdessen stellte ich einen Arbeitsbericht zum Projekt YOU&EYE zusammen. Mir fielen dabei die Rückwirkungen auf meine eigene Bildproduktion auf. Die Vorsicht, mit der ich heute an die Buchmalereien ging, machte die vagen aber entscheidenden Strukturen, aus denen sich die Malereien und Collagen zusammensetzen, sichtbarer. Da stört in der dritten Malerei schon eine Punktlinie aus Tinte, die eine Senkrechte verstärkt.

Durch meine Abstinenz von Rolle 11, sah ich neue Aspekte, die bei einer fortlaufenden Arbeitsweise unter den Tisch fallen. Mit einem Blick auf die ganze Tanzlinie, werden die Kompositionsrhythmen der vorsichtigen Überlagerungen wichtiger. ohne entsprechende Zurückhaltung, fürchte ich ihren Fluss zu stören. Ganz gegenteilig dachte ich gestern: „…da fehlt etwas gegen den Strich“. So halte ich lieber an, lasse die widerstreitenden Vorgehensweisen in der Schwebe und warte ab, was passiert.

Ein guter Nebeneffekt dieses Vorgangs ist, dass ich die Dinge erledige, die ich vor mir her geschoben habe: Abrechnungen, Entwicklung der Konzeption für ein Diktaturen-Projekt, Atelier aufräumen und Staubsaugen.

Gegen den Strich

Am Sonntag fiel mein Blick nur kurz auf die Transparentpapierrolle mit der durchgehenden und geschichteten Linie. Fast zu schön, dachte ich. Da fehlt etwas gegen den Strich. Schellack könnte die starken Verdichtungen etwas anlösen und verschwimmen lassen. Es steckt noch ein Potential in der Rolle 11, die jetzt auf dem Kraftfeldtisch liegt.

Wir sahen Aribert Reimanns „Melusine“ im Bockenheimer Depot. Die besondere Herausforderung des Zusammenspiels von Kunstgesang und Bühnendarstellung gelingt meiner Ansicht nach selten. Mir scheinen da naive Vorstellungen unterwegs zu sein, wie Musik durch Spiel erweitert werden kann. Zu oft werden dramatische Partien, die man ohne Textprojektion nicht verstehen würde, mit großen Gesten illustriert. Das Komplexe musikalische Werk benötigt aber eine andere Darstellungsweise auf der Bühne. Am ehesten könnte eine formale Inspiration dafür aus dem Orchester kommen. Die Bewegungsstruktur des Dirigenten als Quellmaterial für eine spielerische Entwicklung…

Danach tauschten wir uns noch mit Carola beim Bier, das nur zögerlich den Weg zu unserem Restauranttisch an der Bockenheimer Warte fand, über die kulturellen Ereignisse der letzten Zeit und der nahem Zukunft aus. Ich fragte in die Runde, ob nicht ein Wissenschaftstext zum Solar Orbiter „SolO“ gut auf die Tanzlinie passen würde.

Durchschaubarer

Gestern beendete ich die erste Überlagerungssequenz der Tanzlinie mit ihren Verdichtungsintervallen. Dann zeichnete ich die durchgehende Linie im Anschluss noch einmal auf Rolle 11, um in der Folge die Schichten zu reduzieren, um die durchschaubarer zu machen.

Ein Text, den ich auf die Linie schreiben will, kann auch völlig artfremd sein. Ich könnte mir einen Ausschnitt einer wissenschaftlichen Abhandlung vorstellen, etwas Mathematisches oder Physikalisches. Eine Sonde untersucht beispielsweise derzeit die Partikel der Sonnenstürme…

Öfter geht mir das Diktaturenprojekt durch den Kopf und sein Zusammenhang mit der Ausstellung „Eingebrannt…“ in der Kunsthalle Darmstadt. Die musikalische Arbeit, die ich mit Susanne begonnen habe folgt einem Impuls der Kooperationen zwischen den Künsten in der DDR.

Eingebrannt

In der Kunsthalle Darmstadt sahen wir „Eingebrannt. Malerei, Lyrik, Neue Musik und Proben zweier Bildhauer aus der DDR“. Diese Dinge nebeneinander zu präsentieren, bedarf eines besonderen Zugriffs auf die inneren Zusammenhänge. Dieser war nicht gegeben. Aus meiner Erinnerung wurde die Enge des umgrenzten und überwachten Areals durch Kollaborationen zwischen den Künsten gesprengt. Es gehörte zu unserem Arbeitsalltag mit Musikern und Schriftstellerinnen zusammen zu arbeiten. Diese besondere Arbeitsweise gedieh unter den Bedingungen eines hohen Innendrucks. Das zu zeigen, hätte den Blick erhellt und geklärt.

Den Musiker Hans Carsten Raecke, von dem Musikbeispiele in der Darmstädter Ausstellung zu hören waren, traf ich in den Neunzigerjahren in Heidelberg. Wir hatten ein Intensives Gespräch über seine selbstgebauten Instrumente und die Musik, die er mit ihnen erfand. Aus dieser Begegnung entstand die Arbeit „Mecklenburger Pferd“, nach einer Komposition von Ihm.

Eine Wendung – die Richtung des Gedankengangs wechseln – die Sprache schlägt in Ballett um. Meine Hand schickt dir einen Zeichengruß, der dich in Bewegung setzt, in den Bühnenraum. Dann hefte ich mich an deine Fersen, vollziehe den Gang nach bis zu deiner Wendung mir entgegen auf deiner Spur.

Ich suche nach einem Text für die Tanzlinie, den ich auf die Linien schreiben kann.

China

Die Tanzlinie lässt mich nicht los. Nach den Verdichtungen, die durch das Zeichnen der Schichten während des Hin- und Herrollens Strukturintervalle hinterlassen, die den anrollenden Wellen der Brandung am Strand eines Ozeans ähneln, will ich die Linie noch einmal durchgehend ohne Überlagerungen auf die Rolle zeichnen. Später kann ich dann mit kleinen einzelnen Schichtungen geringerer Dichte experimentieren.

Nach unserem Treffen im Anna-Freud-Institut saß ich mit Sigi Am Tor beim Kaffee und sprach mit ihr über das Diktaturenprojekt. Und am Abend schickte sie mir eine Nachricht mit einem Hinweis auf einen Themenabend auf „Arte“ über das Chinesische Unterdrückungssystem. Ich musste an unsere Kontakte zu den Buddhisten in Ladakh an der Chinesischen Grenze denken und an die Arbeit im Tibethaus.

Ich komme nicht darum herum, das Diktaturenprojekt jetzt vor ernsthafteren Gesprächen, einmal zu formulieren, um dabei klar Stellung beziehen zu können. Erst dann können die Themen umrissen werden. Oder sind die Themen schon ein Statement? Zöglingsportraits aus dem Jugendwerkhof, meine Stasiakte und mein „Mentor“ und „Der Rock´n´Roll höhlt einen Jungpionier aus“…

Tanzlinie I Rabe

Bei der Fortführung der Verdichtung der Undertainment – Tanzlinie, konnte ich den neutralen Punkt, der das Projekt gestern so schwach erscheinen ließ, überwinden. Die Annahme, dass nur die strikte, konsequente Überlagerung der Geflechte zu der Kraft führen kann, das Potential dieses Vorgangs zur Entfaltung zu bringen. Nun weiß ich, wie es weitergeht.

In der Abschluss – Supervision des Projektes YOU&EYE kam es zu einem intensiven Austausch der Erfahrungen der Künstlerinnen und Künstler. Daraus ergaben sich wünschenswerte Maßgaben für die Zukunft des Projektes. Ich möchte gerne mit Schülern unterschiedlicher Alter arbeiten und manche von ihnen mehrere Jahre begleiten.

Der Rabe, der mir vor ein paar Tagen in die Hand gedrückt wurde, wird nun langsam von den Insekten skelettiert. Ich warte bis nur noch die Knochen übrig sind, die ich dann zu mir nehme. Die hänge ich in mein Gärtchen. Die Geschichte habe ich heute im Anna-Freud-Institut erzählt.

Textgartenbilder

Könnte ich mich in Worte fallen lassen, wie in Bilder, könnte ich Zitate mehrfach wiederholen, umlenken oder in ihr Gegenteil verwandeln. An den Schnittstellen der Satzfragmente, würden Begriffe neu austreiben, sich verzweigen und von mir wieder beschnitten werden. Textgartenbilder würden entstehen.

Zwei Tage war ich nicht im Atelier. Bei der Rückkehr hat sich manches, was mir vor 3 Tagen noch so wichtig erschien, relativiert. Die Buchmalereien entstehen nach wie vor zu Hause, in meinem Zimmer über der Allee. Zufällig entstand heute ein Gesichtsprofil, das aus der linken Ecke des zweiten Formates auf eine zarte Szenerie schaut: wenige Umrisse, Hautstruktur der Handkante mit Lavasteinlöchern und ein paar Zickzacklinien – fertig!

Die Verdichtungen der Undertainment – Tanzlinie, erscheinen mir unentschlossen und in der Mitte der entstehenden Gesträuchstruktur etwas vage und wenig brauchbar für die Collagen. Die pure Linie hatte mehr zu bieten. Es muss jetzt konsequent zu Ende geführt werden, um den Vorgang zu retten.

Toter Rabe

Eine etwas aufgelöste junge Frau drückte mir gestern Abend, als ich vor dem Atelier zeichnete, einen jungen, toten Raben in die Hand, den sie in ihren beige-rosafarbenen Pullover gehüllt hatte. „Kannst du ihn nehmen, er hat gerade noch gelebt und ich habe ihm Wasser gegeben.“ Ich legte ihn an den Rand des Wasserbassins am Bahndamm, wo ich schon öfter tote Tiere gefunden habe.

Hauptsächlich aber arbeitete ich gestern weiter an der Undertainment-Tanz-Linie auf Rolle 11. Unbeeinflusst von den Verdichtungen der Tanzsequenz zuvor, begann ich die durchgezeichnete Linie zusammenzurollen. Indem ich in die unteren Schichten der Rolle weiße Blätter einlegte, konnte das vorausgehende Liniengeflecht, das ich in den letzten Wochen gezeichnet habe, abgedeckt werden. Schon die pure Linie, ohne Überlagerungen, verhalf den letzten Collagen zu markanten Szenen, die von den Strukturen der Buchmalereien bereichert wurden. Sie fungieren wie Kostüm und Bühnenbild in abstrakter Form.

Diese Arbeitsschritte nehmen mich ganz ein. Nun bin ich gespannt, wie sich die entstandenen Szenen-Linien-Überlagerungen in die neuen Collagen einfügen werden, ob es noch einmal eine Steigerung gibt. Die Zwischenergebnisse der Versuchsreihen wiegen schwer für mich und absorbieren meine Aufmerksamkeit.

Undertainment-Linie

Mehrmals zeichnete ich die Undertainment-Linie auf Transparentpapier durch. Die Streifen variieren in Nuancen, aber mit dem Fortgang dieser Arbeit gewinnt das Gesamtbild an Stabilität. Es ist wahrscheinlich die stärkste Ausgangslage für eine Tanzsequenz bisher, die auch in weitere andere Bereiche führen wird.

Gestern zeichnete ich an einem Tisch im Freien, in der Sonne, um mich aufzuwärmen. Es hatte aber auch den Grund, dass diese „Ballett-Mitschrift“ ins Freie musste. Sie braucht Platz, um sich in den Raum über die Tuschelinie auf Transparentpapier auszubreiten. In meiner Vorstellung erscheinen Worte auf den Linien, die sich langsam zu Textzusammenhängen verbinden. Sie werden von den Empfindungen gesteuert, die von den Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer ausgelöst werden.

Mit Anne sprach ich noch einmal über die Sprachmischungen der Fahrenden Völker auf dem Gustavsburgplatz. Auch sie können sich zur Undertainment-Linie hinzugesellen. Auf dem Kraftfeldtisch rollten wir Rolle 11 zurück bis zu den Linien, die wir gemeinsam im Lustgarten sprechend gegangen sind.

Kraftfeld-Tisch

Nach Tagebuch und Trixel Blog begann ich gestern die Linie zu zeichnen, die die Choreografie „Undertainment“ durchgehend umreißt, auf eine separate Transparentpapierrolle. Dafür stand ich vielleicht 20 Minuten an dem Tisch, der aus zwei Böcken und der Kraftfeldform besteht, am „Kraftfeldtisch“. Dort lässt der Druck nach, der oft durch die Rotation der Arbeitskontinuität und durch Anforderungen von außen zunimmt. In den Collagen entdecke ich nun das Potential dieser einzelnen Linie, ohne dass sie schon durch Überlagerungen verdichtet wäre.

Mit Anne sprach ich gestern über den Gustavsburgplatz, die Sprachen die dort in den Zwanzigerjahren gesprochen wurden und über die wandernden Handwerker, die sicherlich mit den fahrenden Völkern zutun bekamen. Die Fiznerbrüder hatten ihr Modell des Breslauer Domes sicherlich unter einer Plane auf ihrem Wagen. Wenn er hohe Speichenräder hatte, konnten sie unter diesem Zelt auch schlafen (poofen).

Gestern war die Abschlussveranstaltung des Projektes „YOU&EYE“ im Kulturamt. Dort traf ich Chunqing wieder. Danach mit Anne Apfelwein in der Braubachstraße und am Abend Essen im Gallus und Wein bei uns in der Frankenallee.

Mumpitz, Pampe, Kiez

Am ehesten bekomme ich einen Abstand zu den Projekten, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich am Morgen meine Buchmalereien mache. Sie sind meistens entfernt von dem Bilderstrom der sonstigen Produktion, die sich in Texten und auf dem Transparentpapier etabliert.

Ich stelle mir den Gustavsburgplatz vor hundert Jahren vor. Er war ein Lagerplatz von Fahrenden Völkern. Die Sprachen zwischen den Wagen, Pferden und Kochstellen waren ein Gemisch aus Deutsch, Polnisch, Rotwelsch und Jenisch. So, wie ich mir versuchte, gehend ein Bild von Zwangsarbeiterlager Ackermannwiese zu machen, so will ich gehend, mit jenischen Worten einen Versuch machen, die Geschichte für mich an diesen Ort zurück zu holen.

Auch im Zusammenhang mit der Wanderung der Fiznerbrüder und der Sprache meines Vaters, stellt sich für mich ein Anklang dazu her. Der etwas schnarrende, proletarische und leicht ostpreußische Ton ist durchsetzt mit Worten der wandernd arbeitenden Menschen. Maloche, Moos, Fusel und in der Penne wird gepooft oder der Lehrer wird verkohlt. Mumpitz, Pampe, Kiez.

Der östliche Blick

Das Wanderungsspurenprojekt TRIXEL PLANET, war eine direkte Reaktion auf die DDR Gesellschaft, der ich entkommen war. Schon dort dachte ich gemeinsam mit Christa Wolf über eine künstlerische Reaktion auf fremdenfeindliche Aktivitäten gegen Vietnamesen in Ostberlin nach. Gleichzeitig aber kam dieser Impuls aus der Sehnsucht nach der Ferne, wegen der Reisebeschränkungen, denen man dort unterworfen war.

Am Vormittag hatte ich ein weiteres Diktaturen – Arbeitsgespräch mit Chunqing und Thomas. Gemeinsamkeiten der Arbeitsansätze fanden wir in unseren Wanderungsthemen. Freiheit der Wege, der Gedanken und der Worte suchten wir jenseits der Regime, in denen wir aufwuchsen. Die Fähigkeit, das Wir über das Ich zu stellen führte Chunqing in ihre „Painters Portraits“ und mich in ein kuratorisches Projekt in Heidelberg, wo es mir um die Arbeit der ehemaligen DDR-Künstler im ersten Jahr ihres Westaufenthalts ging. Dort stellte ich meine eigenen Bilder zugunsten der anderen zurück. Chunqing machte das auch mit ihrer Arbeit im ersten Schritt ihres Projektes, das sich mit den europäischen Meistern beschäftigt.

Wir sprachen über die Tanzimprovisationen innerhalb der Forsythechoreografien und probierten das auch aus, über GPS Gänge mit freier Sprache auf dem Gustavsburgplatz, der von Jenischen besiedelt war und über unser Empfinden diesen Phänomenen und Bildern gegenüber, aus unserer Erziehung heraus. Es ist der östliche Blick, der uns verbindet. Eine gemeinsame Arbeit, die daraus entstehen kann, braucht nun etwas Zeit um zu reifen.

Gepresster Block

Die Projektthemenschichten pressen sich zu einem Block zusammen, in dem die Trennungslinien verschwimmen. Die aktuelle Tanzsequenz bekommt es mit dem alten, ausgehöhlten Jungpionier zutun. Und die Undertainment -Zeichnungen wiederholen die Verdichtung der einfachen Gesten zu komplexen Improvisationen auf der Bühne, in einer Überlagerungssequenz auf Rolle 11 und 12.

Gestern schickte ich meine Konzeption zum GPS-Gang auf dem Gustavsburgplatz an die Interessentin bei der Deutschen Bank. Lolek hat mir erzählt, dass der Platz mal ein Lager Fahrender Leute war. Auch die hatten es nicht leicht mit den aufeinander folgenden Diktaturen. Die Sprachen dieser Leute, ihre Vokabeln, die heute noch in unserem Sprachgebrauch sind, könnten beim Gehen und Sprechen an diesem Ort eine Rolle spielen.

Heute gehen wir am Abend zu einer Lyrikveranstaltung, die das Kulturdezernat veranstaltet. Schwer zu sagen, was uns erwartet und was wir mitnehmen können.

Undertainment

Die Choreografie „Undertainment“ von William Forsythe, die wir gestern sahen, setzte sich tatsächlich aus dem Improvisationsmaterial zusammen, das wir im Workshop mit Cyril Baldy kennen gelernt hatten. Ich hatte ein kleines Zeichenheft bei mir, in das ich Linien schrieb, die etwas von dem für mich festhielten, was zwischen den Tänzern und Tänzerinnen passierte. Dieser Klang, der entstand, kam aus dem Workshopwissen, dem Bühnengeschehen und den fortlaufenden Linien, mit denen ich den Fluss der Begegnungen festhalten wollte.

Diese wenigen Zeichnungen, die ich auf 20 Seiten des Heftchens, mit einem Hanuman vorne drauf, machte, werden jetzt sehr wichtiges Material für die Fortführung der Arbeit. Vielleicht war dies das letzte Forsythestück, das ich direkt von der Hand des Meisters zu sehen bekam. Ein paar Wochen habe ich intensiv auf diesen Moment hin gearbeitet. Entsprechend nervös war ich vor der Vorstellung.

Gestern Nachmittag zeichnete ich stoisch an Rolle 11 weiter. Die Figuren aus der Diktatur gehen nun eine gründliche Verbindung mit dem Tanzgeflecht ein. Die Tanzlinien etablieren sich in auch den Buchmalereien. Der erste Scan einer Bühnenzeichnung von gestern findet sich schon in den heutigen Collagen. Das führe ich weiter.

Materialschichten

Gestern breitete ich alle Blätter, die zum Thema „Der Rock´n´Roll höhlt einen Jungpionier aus“ angefertigt hatte auf dem Tisch aus, dessen Platte aus der Kraftfeldform besteht. Dort entwickelte ich die Materialschichten der unterschiedlichen Bereiche weiter.

Gleichzeitig denke ich an die Tanzpremiere am Abend und an mein Vorhaben, währenddessen das Forsythestück zu zeichnen. Ich möchte das mit dem Füller machen, mit dem ich gerade schreibe. Und die Buchmalereien begann ich mit entsprechend ausschweifenden Linien, die den Raum andeuten, der sich zwischen den Tanzfiguren befindet. Die Materie zwischen ihnen, dehnt sich, wird gestaucht und drückt die Körper durch das abgesteckte Areal.

Jetzt begegnen sich die Bewegungen des Gitarrensounds der Sechzigerjahre, die Improvisationsreaktionen der tanzenden Körper und ihrer Zwischenräume. Das Spiel der Zeichnungen, Papierschnitte, Radierungen, Videoschnipsel und Holzschnitte beginnt einen Klang zu entwickeln. Diesen forme ich nun im Atelier weiter, will ihn in einen Raum führen, den ich mit Worten anreichere.

Ausgehöhlter Jungpionier

Manchmal spreche ich mit den Bildern, die ich gerade male, vor allem, wenn was fehlt oder wenn sich überraschende Dinge hinzugesellt haben. Ab und zu erscheinen mir noch die Ornamente der Buchmalereien, die wir am Sonntag im Museum für Angewandte Kunst gesehen haben. Manche Blätter waren so gehängt, dass man auch ihre durchschienenen Rückseiten sehen konnte. In einer dieser Ansichten sah man dunkle Linien, die sich im Laufe der Zeit in die Hautstruktur des Pergaments gefressen haben mit einer quer liegenden, durchleuchteten Pflanzenstilisierung. Bei mir tauchen diese Konstellationen im Zusammenspiel von Umrisslinien und Handabdrücken auf.

Beim Durchstöbern von alten Zeichnungen stieß ich auf eine Mappe mit Arbeiten zu „Der Rock ´n´ Roll höhlt einen Jungpionier aus“. Die Reihe habe ich damals für Keith Richards gemacht, den wir mit allen Rolling Stones 1995 backstage auf dem Hockenheimring trafen. Nach dem zeitlichen Abstand wirken besonders die skizzenartigen Versuche, die Durchdringung des jungen Menschen mit der Bewegung einer Musik zu zeigen auf mich.

Ich zeichnete zwei Figurenmotive übereinander auf Rolle 11, wie ich sie damals schon als Radierungen übereinander gedruckt hatte. Auch das gehört von meiner Seite aus zum Diktaturenthema. Keith Richards hat das, was ich ihm dazu erzählt habe gut verstanden.

Neue Bedeutung

Auf dem Tanzfries auf Rolle 11 band ich 2 Figuren aus dem Jahr 2000 ein, die nichts mit Tanz zutun haben. Jetzt kann sich diese Arbeit auch zum Thema „Diktaturen“ hin öffnen. Ich denke an meine Verbindungen zu Ballettleuten in Dresden, an Thomas Hartmann, an Arila Siegert und an die Paluccaschule, in der ich Gret Palucca noch tanzen sah. Schon damals zeichnete ich, unter anderen Vorzeichen, Tanz. Zu überlegen wäre, wie viel Kontinuität der künstlerischen Arbeit bei einem Wechsel der politischen Systeme bleibt, oder dann, wenn man seinen Wohnort verlegt aus der Enge in die Weite.

Als ich nach meiner Übersiedlung in den Achtzigerjahren in Heidelberg ankam, bot mir ein Geschäftsmann an, eine Galerie aufzubauen. Mein Konzept dafür war, die Arbeiten von ehemaligen DDR-Künstlern aus ihrem ersten Jahr im Westen zu sammeln. Ich besuchte Hartmut Bonk und Helge Leihberg. Mein Gedanke war, dass ich diese Kunst ermöglichen wolle, und dass es egal wäre, ob diese von mir oder anderen Künstlern gemacht würde. Diese Bereitschaft zur Aufgabe der eigenen künstlerischen Arbeit zugunsten einer „Sache“, entsprang der Erziehung, in der das Individuum nicht so viel galt. Der Geschäftsmann mit der Galerie machte bald schlapp!

In den derzeitigen Collagen wird die Entwicklung der Bildgedanken zu den Diktaturen sichtbar. Dort begegnen sich die verschiedenen Suchbewegungen. Die alten Arbeiten bekommen eine neue Bedeutung!

Painters Portraits I Stasisequenz

Bevor ich am Morgen ins Atelier zu Chunqing ging, schrieb ich das Tagebuch zu Hause. Unsere Besprechung dann, steckte einen ersten Rahmen für unser Projekt „Diktaturen“ (Arbeitstitel) ab. Ihr Projekt „Painters Portraits“ scheint zunächst im Mittelpunkt ihrer Hinwendung zur Europäischen Kultur zu stehen und somit auch der wichtigste Part zu sein, den sie beisteuern wird. Mein wichtigster Beitrag wäre die „Stasisequenz“ auf Rolle 10. Es wurde klar, dass die unterschiedlichen Mentalitäten auch unterschiedliche Umgänge mit dem Phänomen der Diktatur hervorbringen. Das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere verschiedenen Zugänge zum Thema.

Im Museum für Angewandte Kunst sahen wir gestern Buchmalereien in Stundenbüchern des Mittelalters. Ich erwartete von mir eine größere Emotionalität beim Betrachten der Arbeiten, die eng mit meinem täglichen Tun verbunden sein müssten. Bei allem Genuss der Ornamentik und der kunstvollen Malereien, blieb der Raum zwischen uns seltsam kalt. Aber wenn ich jetzt in meine Bücher male, erscheinen vor mir manchmal die ausgedehnten Ornamentflächen neben den „bewohnten“ Initialen.

Auf dem Heimweg, noch im Museum traf ich Ulrike Markus, die unser YOU&EYE Ausstellung gemacht hat. Wir sprachen noch eine Weile über den Sinn dieser Arbeit. Und auf der Rückfahrt über das Museumsufer sahen wir vor dem Architekturmuseum noch die Menschentraube, die das renovierte Haus einweihte. Mitten drin Frau Budde, mit der ich viele Jahre arbeitete.