Himmelsrichtungen I Räume

Oft standen wir lange in einem Block zu hundert Soldaten auf dem Appellplatz der Grenzausbildungskaserne in Eisenach. Den hatte ich einmal während des Arbeitsdienstes an einem Sonnabend fälschlicherweise quer geharkt, anstatt in Ost-West-Richtung längs. Also noch mal das Ganze. Über den Köpfen der aufgereihten und ausgerichteten Soldaten verlief eine Fluglinie von Westberlin nach Frankfurt am Main. Als, sehr weit über uns, wieder eine Maschine mit einem schönen Kondensstreifen über den Platz mit uns hinweg glitt, flüsterte mein rechter Nachbar aus einem Stillgestanden: „ Pan Am, wir düsen mit ihnen nach Süden.“ Das war die ursprüngliche Richtung meiner geharkten Linien.

Gestern nahm ich mir alte Tagebücher vor, um nachzuschauen, in welchen Zusammenhängen ich Zeichnungen in den Achtziger- und Neunzigerjahren gemacht hatte. Und natürlich sind die Zeichnungen, die ich zum Büchnerprojekt von Wolfgang Engel am Schauspiel Dresden gemacht hatte oder zu Hebbels Nibelungen, auch von ihm, immer auch Kommentare zu den Verhältnissen, in denen wir arbeiteten. Von der allgegenwärtigen Überwachung und Zensur machte ich mich frei. Ich sprach zu jedem klar.

Mir fällt der Zusammenhang zwischen den Räumen, in denen ich mich äußerte, auf. Die Umdeutung sakraler Themen in den Kirchen, ging einher mit theatralen Vorgängen. Meine Linolschnittreihe zu „Bruder Eichmann“ von Heinar Kipphardt für eine Inszenierung von Horst Schönemann am Schauspiel Dresden, hatte wiederum sakrale Züge.

Zusammenarbeit

Schmetternder Gesang einer Amsel behält die akustische Oberhand an diesem Morgen auf dem Balkon über der Frankenallee. Während der Malerei am Schreibtisch beschäftigten mich das Diktaturenprojekt und die damit verbundene Zusammenarbeit mit Chunqing.

Mir fällt ein, dass Vinzenz Reinecke einen Gedichtband von Armin Müller in einer chinesischen Bibliothek gefunden hat. Den hat der Proletarische Internationalismus dorthin getragen. Kulturaustausch auf höchster Ebene. Die Schriftstellerinnen: mit Kathrin Schmidt lebte ich viele Jahre in einem Haus zusammen in Thüringen, es gibt die langjährige Arbeitsbeziehung zu Christa Wolf, bei Wolfgang Engels Büchnerprojekt arbeitete ich eine Weile zusammen mit Durs Grünbein in Dresden. Im Westen traf ich meine Frau und damit ging die Tür zur Welt-Literatur auf.

Der Kontakt zu Bildenden Künstlern hingegen blieb bescheiden. Oft langweilte mich die Kunstwelt, vor allem im Westen. Und vielleicht ist hier der generelle Unterschied der Kunsterfahrungen verborgen. In der Ostdiktatur ging es um das Leben, es gab in den Gefahren und der Angst vor dem Staat eine enge, lebensnotwendige Zusammenarbeit. In der Westfreiheit nicht.

Akzente der Erinnerung

Schon in den letzten Jahren in der DDR dachte ich, dass die Arbeit, die Produktivität in dieser Zeit besonders wichtig sei. Öffne ich den Schubladenschrank mit den Zeichnungen und Grafiken, mein Gesellenstück, so treten mir sofort diese Radierungen entgegen, in denen ich dieses Eingesperrtsein thematisierte. Besonders in den Holzschnitten und Radierungen verdichten sich diese Emotionen.

In den Tagebüchern dieser Zeit wird ebenfalls vieles zu finden sein, das in den Zusammenhang passt, das Leben eines jungen Künstlers in der Diktatur verdeutlicht. Der Anstoß von Ina kam wirklich auf den Punkt und unterstützt die Produktion. Somit formt sich das Projekt nun nach dem Material das vorhanden ist und nach unserem heutigen Blick darauf. Daraus kann nun auch etwas Neues entstehen.

Ich denke an die Monotypien, an das Holzschnittbuch zu Kassandra und an meine Medeaarbeiten. Ich denke an die Monotypien zu Herakles II oder die Hydra von Heiner Müller und an das Mecklenburger Pferd von Hans Karsten Raecke. Auch die Zusammenarbeit mit Cornelia Schleime, Helge Leihberg und Frank Lehmann sind Akzente in der künstlerischen Erinnerung an die DDR.

Diktaturprojekt

Am Morgen war die Ausstellungseröffnung von YOU&EYE im Museum für Angewandte Kunst. Alle wieder zu sehen, die Schüler, Kollegen, Lehrer und Organisatoren, war belebend. Mit den Ballettleuten konnte ich über meine Erfahrungen mit dem Forsytheworkshop und über den Tanzfries sprechen. Die Schülerarbeiten führen auch zu Gesprächen über die Arbeit der Künstlerinnen.

Mit Chunqing begann ich unser Diktaturprojekt zu umreißen. Da ist noch vieles unsausgesprochen und auch dadurch besteht noch viel Potential für ein Konzept. Wir müssen uns jetzt treffen und überlegen, wie wir das Vorhaben begrenzen. Dann wäre ein Termin bei Ina Hartwig fällig.

Weil ich den ganzen Vormittag im MAK verbracht habe, bin ich erst am Nachmittag, hier zu Hause am neuen Tisch, zur Tagebucharbeit gekommen, die ich dann gleich im Atelier fortsetzen will. Vielleicht fällt mir dann dort auch noch was anderes ein – Rolle 11, Wiese inspizieren, Gärtchen pflegen… Noch muss ich mich etwas schonen.

Gediegen

Mit mehr Ruhe zu Hause verharre ich länger bei den Buchmalereien, versenke mich tiefer und arbeite manche Figuration gründlicher aus. Das neue Möbel, auf dem das geschieht hat auch einen Einfluss darauf. Die gediegene Schreinerarbeit lässt kein Schludern zu.

Chunqing möchte sich mit mir treffen. Ich bin gespannt auf ihre Erfahrungen mit dem Chinesischen Staat. Wie hat sich ihre Umsiedlung auf ihr Werk ausgewirkt? Es gibt ja die beeindruckende Serie, in der sie sich einzelnen europäischen Malern widmet.

Mir ging meine Arbeit zu „Hin und weg“ im Humboldtforum durch den Kopf. Eine weitere Idee der vergangenen Nacht beginnt mit der Kraftfeldform, ihrem krönenden Brandenburger Tor und dem Abrissrest des Palastes der Republik in Form des übrig gebliebenen Stahlskelettfragmentes. Von da ausgehend kann ich mein Verhältnis zur „Diktatur des Proletariats“ entschlüsseln.

Zaubern

Am späten Morgen begann ich heute mit den Buchmalereien. Die Arbeit war die, wie an Gemälden. Irrtümer sind willkommene Anlässe, das ganze zu überarbeiten und Schicht für Schicht weiter zu spinnen. Dadurch rhythmisiert sich das Malen wie von selbst. Figuren lösen sich auf und setzen sich wieder neu zusammen. Dann komme ich mir vor wie ein Zauberer und die Dinge, die ich nicht wollte, gehen über das Zaubern hinaus.

Das Arbeiten an meinem neuen, alten Tisch ist anders. Er hat rissige Stellen und ich muss ihn auch reparieren. So bekomme ich eine Beziehung zu ihm. Nach dem Mittagsschlaf ging ich ins Atelier, begutachtete die über 10 Exemplare des Wiesengamsbartes, der sich von alleine so vermehrt hat, gieße die Pflanzen und kümmere mich um Collagen und Blog.

Öfter denke ich an neue Projekte. Jetzt aber bin ich, nach der Operation, erstmal in einer Rückzugsphase und gehe die Vorhaben nicht gleich ernsthaft an. Einzig Ina und Chunqing schrieb ich zu unserer Ideenentwicklung zu Diktatur und Kunst etwas. Ich kümmere mich später…

Gruppen

Auf der großen Bühne des Schauspiels Frankfurt hatte gestern der Abend „Der Sandmann“ nach ETA Hoffmann Premiere. Barbara und ich waren eher beglückt, standen aber mit dieser Empfindung ziemlich alleine da. Wir trafen viele Bekannte und Freunde und standen im Grüppchen beieinander und hatten uns viel zu erzählen.

Während einem längeren Gespräch mit Ina Hartwig, kam zwischen uns die Idee auf ein Projekt über Diktaturerfahrungen von Künstlern zu machen. Und wie schlägt sich dann der Übergang zur Arbeit in einer freien Gesellschaft nieder. Chunqing stand dabei und Inas Idee war es, dass wir uns ja in diesem Vorhaben zusammentun könnten. Sie, mit ihrer chinesischen und ich mit meiner ostdeutschen Brille.

Unter dem Vordach des Ateliers hat sich eine Gruppe Jugendliche versammelt, die ich schon kenne. Sie Kiffen zivilisiert und interessieren sich für meine Arbeit. Ein Mädchen hat einen kurzen Text über mich geschrieben. – Ich merke, dass ich mich gestern etwas übernommen habe und mich nach der OP noch weiter schonen muss. Deshalb ist jetzt Schluss.

Zäsur

Ich habe eine Vollnarkose wegen einer OP hinter mir. Wieder munter, scheint die Welt etwas anders zu leuchten. In den Buchmalereien lasse ich mich nach dem gespenstischen Wegtreten ganz in das Tun fallen und achte nicht auf die Spannung die es auslösen sollte oder vermissen lässt. Ich fühle mich freier und ernster.

Hoffentlich bringt diese Zäsur die Kontinuität etwas ins Wanken, dass andere Dinge in den Vordergrund rücken und dass das Wesentliche an Kontur gewinnt. Vielleicht ist das nun der Punkt, an dem sich die Tanzsequenz auflöst und die Verbindung mit den anderen Umrissen, Bewegungen und Worten eingeht.

Das begann schon mit den Buchmalereien, die ich gestern und heute zu Hause gemacht habe. Weil ich den Farbkasten vergessen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Lavasteine mit den Aquarellstiften einzufärben, um mit dem feuchten Handballen Abdrücke von ihnen in die kleinen Formate in meinem Buch einfügen zu können. Die Farbigkeit wird dadurch differenzierter, weil noch andere, frühere Farbschichten auf den Steinen eine Rolle beim Abdruck spielen.

Hin und her

Figuren umgeben von Strukturen waren das Thema des Morgens. Einerseits schließen sich die Malereien an die Zeichnungen an, die ich 2003 bei der Tanzproduktion von Georg Reischl gemacht habe, andererseits scheinen sie eine Rückkopplung von Rolle 11 in das Buch zu sein. Nun wäre es wieder möglich, die Buchmalereiumrisse aus dem Buch auf die Rolle zu zeichnen, um sie direkt mit den Tanzzeichnungen zu konfrontieren.

Gestern räumte ich die Transparentpapierarbeiten, Holzobjekte und Reliefs der Schüler zusammen, um sie am Nachmittag in das MAK zu bringen. Dort sollen sie mit den Bildern der anderen Gruppen des Projektes YOU&EYE in einer gemischten Ausstellung zu sehen sein. Bin gespannt, wie Ulrike das macht.

Die Sequenz des Tanzfrieses, die ich am 19.5. und gestern gezeichnet habe, steht nun vor mir auf dem Zeichentisch, der sich unter dem geöffneten Rolltor des Ateliers befindet. Die trockenen Weidengeflechtstapel, die im Gärtchen liegen und sich verschränken, ähneln manchen Stellen in den Zeichnungen davor.

Nur Feder und Tusche

Der Einkauf beim Boesner, um all das zu ersetzen, was die Kinder zerstört und verbraucht haben, erinnert mich an meine Einkäufe im Malkasten hinter der Brühlschen Terrasse in Dresden vor 50 Jahren. Mit fast allen Materialien des heute erschlagenden Angebots, könnte ich was anfangen. Aber als ich zurück kam ins Atelier, da nahm ich mir nur Feder Tusche und die Transparentpapierrolle und zeichnete am Tanzfries weiter.

Für die Collagen benötige ich die Liniengeflechte von Rolle 11, um zu zeigen, was mir derzeit wichtig ist. Das versuche ich mit verschiedenen Methoden aufzuspüren. In der Antike gab es eine philosophische Methode des Disputs und des Nachdenkens im Gehen.

Man sieht Menschen, wie sie unterwegs ihre Mobiltelefone benutzen. Sie reden auf verschiedene Weisen mit ihren Gesprächspartnern. Manchmal sieht es so aus, als redeten sie mit sich selber, wie vorgestern der rumänische Christian. Gleichzeitig werden ihre Wege getrackt. So entsteht ein gesprochener Raum. Der von den Fiznerbrüdern, mein Großvater und sein Bruder, die miteinander redend den Plattenwagen mit dem Breslauer Dommodell durch halb Europa zogen, ist noch unbekannt.

Gesprochener Raum

Ich denke an das Sprechen während des Gehens. Der Rhythmus der Sprache gliedert den Weg oder der Weg bestimmt den Tankt des Sprechens. Jeder Schritt, beispielsweise ein vergessener Name. Ein raumgreifender Singsang entwickelt Wortkettenreaktionen, simuliert frühe Sprachzustände. Beim Eisessen sah ich den rumänischen Christian, vor sich hin sprechend, auf der Frankenallee gehen. Wenn die gelaufene Strecke mit einem GPS Gerät und die währenddessen gesprochenen Worte mit einem Diktiergerät aufgezeichnet werden, lässt sich ein gesprochener Raum darstellen.

Das erinnert mich an die Arbeit am Text Bildbeschreibung von Heiner Müller mit Jan Pröhl in den Neunzigerjahren in Heidelberg. Ich entwarf eine Zuschauertribüne in Pyramidenform, die vom Schauspieler umspielt wurde. Er ging ganz festgelegt mit jedem Wort einen Schritt um das Publikum herum: „Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien…“

Gestern schnitt ich eine Höhle in einen Buschwindrosenstrauch am Bahndamm. Das war wie Bildhauerei. Ich stellte einen Stuhl und eine Kiste hinein, von wo aus man sitzend ein ziemlich großes, eingewachsenes Betonwasserbassin beobachten kann, das von allen Vögeln der Umgebung zum Baden und Trinken besucht wird.

Zeitabstand

In dem Moment, in dem die Umrisszeichnungen, die ich 2003 gemacht habe, mit dem gegenwärtigen Material gefüllt werden, nehmen sie an Gewicht zu. Der nach über 20 Jahren veränderte Zeichenstil, baut eine Spannung auf, deren Energie sich aus dem zeitlichen Abstand speist.

Damals war ich in viele Projekte parallel verstrickt. Heute kann ich mich besser auf einzelne Vorhaben fokussieren. Aber Tanz und GPS-Gänge finden sicher zusammen auch mit Text. Gerne würde ich das auf dem Gustavsburgplatz beginnen und dann in Berlin im Lustgarten fortführen.

Die Verbindung zum Humboldtforum besteht. Vielleicht ergibt sich eine neue Zusammenarbeit in diese Richtung. Ich muss abwarten. Soll ich währenddessen Buchmalereiumrisse in den Tanzfries einarbeiten?

Innen

Vom Korbstuhl in der Gartennische, also von innen, schaue ich heraus auf das Geschehen. Den Tänzer, der die Performance im Nebelraum des Windfangs des Bockenheimer Depots machte, traf ich vor dem Tevesgelände. Von einem Video dieser Darstellung versuchte ich einen Scan zu machen, um Bewegungsabläufe in einem Bild festzuhalten, wie in manchen meiner Tanzzeichnungen. Diese fortlaufenden Linien, die Zeit festhalten, verbindet mein Hirn mit den geflochtenen Ringen der Weide, die wieder austreiben und so die Möglichkeit schaffen, eine weitere Generation von Zweigen zu Ringen an den Ringen zu flechten.

Durch den Workshop mit Cyril Baldy schaue ich nun ebenfalls aus einer inneren Perspektive auf das Bühnengeschehen der Choreografien. Außerdem spüre ich die Zeit meiner Bewegungen deutlicher. Weitere Zeichnungen von 2003 wachsen in das Geflecht des Tanzfrieses. Tief innen ergeben sich neue Verbindungen, aus denen neue Figuren entstehen können.

Die Lavablasenumrisse begleitete ich in den Buchmalereien mit Holznadelgravuren, die sich hell unter den Schraffuren abbilden. Und die Handabdruckstrukturen ließ ich mit ihrer zarten Farbigkeit mehr Raum, ließ sie auf den obersten Schichtenstehen, damit sie in den Collagen prominenter hervorgehoben werden können.

Denkpause

Mit meinen Schülern bestimmte ich für unsere Ausstellung im MAK wenige Objekte, die während unserer Zusammenarbeit in den letzten Monaten hier im Atelier entstanden sind und unbedingt gezeigt werden sollten. Danach kam die Kuratorin Ulrike Markus, mit der ich mich unkompliziert einigte, was außerdem erscheinen soll. Jedes Mal ist dies auch eine Präsentation meiner Mittel und Materialien, die ich an die Schüler weitergebe. Die Frottagen beispielsweise, die Ausgangspunkt für ihre Motive sind, stammen von meinen Reliefformen.

Verschiedene Reparaturarbeiten unterbrachen den Fluss der Arbeit an den Zeichentischen. In luftiger Höhe musste das Rolltor repariert werden, und an meiner Eingangstür baute ich für ein defektes Schloss ein neues ein. Das alles dauerte mehrere Stunden.

Nach der Denkpause, erscheint mir die Fortsetzung der Tanzarbeit in mehreren Schritten möglich. Zunächst soll der Fries durch die Zeichnungen, die ich während der Premiere machen will, neue Impulse bekommen. Die intensivere Fortführung der Linienverdichtungen dann, kann in Objekte münden, die einen Extrakt der Ergebnisse von Rolle 11 bilden.

Flow

Vorsichtig beginne ich, nur mit schwarzen Punkten die Dunkelheiten der heutigen Buchmalereien zu verstärken. So arbeite ich mich in die Mikroschichten vor, die ich innerhalb der Collagen irgendwann ernster nehmen sollte. Jetzt dominieren die Federzeichnungen von Rolle 11.

An ihnen arbeitete ich gestern weiter und schrieb den Tanzfries fort. Dann setzte ich im Workshop zu den Improvisationstechniken von Forsythe, die Schichten der Transparentpapierrolle mit meinem tanzenden Körper fort. Ganz einfache Handbewegungen am Beginn, die dann auf drei andere Teilnehmer reagierten, bis wir als Team mit unseren größer werdenden Bewegungen in einen Flow gerieten. Aus den dichter werdenden Reaktionen begannen wir die Umrisse des Gegenübers mit unseren improvisierten Choreografien zu zeichnen.

Uns an dieser Stelle war ich nun zu Hause angelangt. In den verschiedenen Ballettsälen, in denen ich gezeichnet habe, setzte ich die Zeichnungen mit der Bewegung einer Hand an, verfolgte den Arm und die Wendungen der Körper im Raum, ohne die Linie abzusetzen. Diese Erfahrungen will ich demnächst beim Zeichnen in der Premiere nutzen.

Takt

Zum Start der Arbeit am Morgen, schaue ich auf die Uhr. Ein Takt, der den Tag durchzieht, strukturiert die Tätigkeiten. Er scheint dem Atem oder Herzschlag zu entspringen, oder dem Sekundenzeiger. Manchmal sind es die Schritte beim Gehen und der Rhythmus der Worte, die mir währenddessen durch den Kopf gehen.

Die Arbeit an Rolle 11 habe ich doch nicht unterbrochen, nur etwas verlangsamt, habe nicht so viel Zeit mit ihr verbracht. Immerhin ist eine Linienstruktur entstanden, die sich für die heutigen Collagen eignete. Diese richte ich mit einem sehr alten Bildbearbeitungsprogramm ein. Eine Frage der Gewohnheit.

Am Morgen begann ich mit direkten scharfkantigen Steinabdrücken und Holznadelgravuren auf dem glatten Papier. Mehrere Schraffurschichten mit unterschiedlichen Aquarellstiften bildeten das Material für die Abdrücke mit der angefeuchteten Handkante in die anderen Formate. Transparenter mischen sich dort die verschiedenen Strukturen mit den Handlinien. Leicht treten diese zarten Erscheinungen hinter den kräftig nachgezeichneten Konturen zurück.

Strukturelle Durchmischung

Wenn in den Buchmalereien die Linien der Umrisse abbrechen, bevor das zu umschreibende Feld eingeschlossen ist, ergeben sich in den folgenden Collagen Einfallstore für eine neue strukturelle Durchmischung. Durchlässigkeit sickert in die Lavablasen und die feinen Handlinien der Abdrücke. Verwischungen aber schaffen eine hermetische Schicht. Ihre Verdrängungskraft impliziert einen Abschluss.

Weil ich oft dieselben Steine einfärbe, um ihre Oberfläche über den Umweg meines Handballens in den Malereien abzubilden, wiederholen sich die Strukturen nicht nur in den drei Bildern des Tages, sondern auch von Seite zu Seite, von Woche zu Woche und über längere Zeiträume. Der dadurch entstehende Zusammenklang ähnelt dem bestimmenden Thema einer musikalischen Komposition.

Ich dachte daran, die fortwährende Arbeit an Rolle 11 zugunsten des Abschlusses des Projekte YOU&EYE zu unterbrechen. Es muss verbrauchtes Material neu beschafft, ein Abschlussbericht formuliert und ein Treffen mit der Kuratorin der Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst verabredet werden. Aber am letzten Tag unserer Zusammenarbeit werde ich aber mit den Kindern Eis essen gehen.

Leute

Die Abteilung Geschichte des Ortes vom Humboldt Forum hat mir das Foto geschickt, das Tobias Kruse von mir hier im Atelier gemacht hatte. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich fühle mich bei ihnen immer geachtet und ein wenig zu Hause.

Auf dem Weg ins Atelier habe ich Spargel gekauft und einen Besuch bei Maike Häussling im Atelier gemacht. Es ist interessant ihre Arbeiten zu sehen und zu hören, was sie sonst alles macht. Sie hatte eine Ausstellung in Berlin und ist viel unterwegs.

Im Atelier hatte ich einen Besuch von Liddy Annegret Dirksen. Sie ist Dresdnerin und hat die DDR schon 1983 verlassen. Auf meine Transparentpapierrollen warf sie den Blick der Historikerin. Auf Rolle 11 setzte ich die Diskontinuität fort. Das strahlt in die Collagen.

Neue Diskontinuität

Die Sonne scheint auf den Zeichentisch, auf dem ich mich mit der Rolle 11 langsam in eine neue Diskontinuität begebe. Die fest gefügten Zustände der verdichteten Tanzfiguren geraten in neue Übergänge. Hilfreich wäre, dieses Material teilweise auf Rolle 12 zu übertragen, wo es ein Eigenleben führen und sich in andere Richtungen entwickeln kann.

Jetzt war ich drauf und dran, die eklatante Farbigkeit der Buchmalereien des Morgens zu dämpfen. Dafür ließen sich Lasuren von Kontrastfarben nutzen. Aber ich lasse es. Die knalligen Töne gehören auch zum Arsenal meiner Arbeitszustände.

In den Collagen bewähren sich die starkfarbigen Abdrücke von den blasigen Lavasteinstrukturen. Sie bilden den notwendigen Kontrast zu den dichten Tuschegesträuchen aus den Tanzzeichnungen von 2003. Aber auch diese Kontinuität fühlt sich langsam etwas festgefahren an. Im täglichen fortführen dieser Collagenarbeit brauche ich eine besondere Kraftanstrengung für Erneuerungen, wenn sie sich nicht von alleine einstellen.

Verkürzung oder Konzentration

Der Dreierrhythmus im Tanzfries auf Rolle 11 hat sich ganz von selbst verändert. Vor dem 3. Schritt der Einbindung des letzten Figurenpaares, schlossen sich schon die Umrisse des nächsten an, das ich mit dem verdichteten Material der vergangenen Wochen füllte. Die Notwendigkeit einer Veränderung kündigte sich schon eine Weile an. Nun schaue ich, was sich aus dieser Verkürzung oder Konzentration entwickeln wird.

Die Arbeit auf Rolle 11 kann wieder für andere Themen geöffnet werden. Verbindungen von Tanz, GPS-Wanderungen und Buchmalereien sollen deutlicher werden. Mehrere Rückkopplungen sind dadurch möglich. Tanzumrisse können beispielsweise gewandert werden und sich dann mit Lavastrukturen und Konstruktionslinien überlagern.

Die Buchmalereien der letzten Tage bestanden aus vielen Schichten. Ihre Entstehung war auch entsprechend langwierig. Das habe ich heute abgekürzt und dadurch wieder überschaubarere Kompositionen erhalten. Und diese würden sich schon für die Erweiterung des Tanzfrieses eignen.

Enttäuschung

Cyril Baldy, der die Neuproduktion „Undertainment“ von Forsythe als Assistent begleitet, gefielen meine Zeichnungen von 2003 und die Tanzsequenz, die bisher aus ihnen auf Rolle 11 entstanden ist. Gleichzeitig machte er mir aber klar, dass es keine Chance gibt, auf einer Probe zu zeichnen. Niemand von außen darf zugegen sein. Ich hatte das befürchtet, war aber dennoch enttäuscht. Ich werde während der Frankfurtpremiere des Stücks in ein kleines Heft zeichnen, das mir Anne geschickt hatte.

Mit den zwei Figuren, die sich auf Rolle 11 eingereiht haben, zeigt sich das Thema des Verhältnisses von innen und außen deutlich. An manchen Stellen, wo sich die Größe und Form der unterschiedlichen Flächen angleichen, wird die Grenzziehung verwirrender. Das hat viel mit der Wirklichkeit zutun.

In unserem Tanzworkshop beschäftigten wir uns wieder mit den Improvisationstechniken, mit denen Forsythe seine Stücke baut. Wenn man als Paar improvisierend aufeinander eingeht, lebt der Rhythmus von der Zeit, der man dem Partner gibt, damit er seine Bewegungen in Ruhe zu Ende führen kann. Stopps müssen eingebaut werden. Es wird Interessant sein, wie wir nun mit diesen Erfahrungen das neue Bühnenwerk lesen werden können.

Rückkopplung

Für mich lohnt es sich, mit Suchbegriffen im Arbeitstagebuch zurück zu blättern. Die älteren Collagen beschäftigen sich häufig mit Tanzthemen, und die Texte ordnen die Bestandteile auch in die Entstehungszeiträume ein. Beispielsweise ist das erste Reliefexemplar des Väterprojektes durchsetzt mit Figuren aus ONE FLAT THING REPRODUCED. Gestern zeichnete ich am Tanzfries in den Abend hinein weiter. Den gestern beschriebenen Dreierrhythmus hatte ich erst nach ein paar Tagen gefunden. Nun suche ich oder warte auf den Moment, in dem ich ihn wieder verlassen kann.

Der Tanzworkshop in der vergangenen Woche hatte die erhofften Auswirkungen auf meine Arbeit. Nun wird sich zeigen, ob ich durch eine Teilnahme an Proben von William Forsythe noch tiefer in das Thema eindringen kann, ob ich mit dem alten Material weiter arbeite oder ob frisches hinzukommt.

Etwas von der neuen Beschäftigung mit Tanz, färbt auch auf die Buchmalereien ab. Aus den Abdrücken der Lavaoberflächen lösen sich lösen sich tänzerische Figuren. Aber in der 3. Malerei erschien ein Tier, das durch eine Barriere hindurch, den Weg vom Wasser ans Ufer findet. Aus seinen Strukturen ergaben sich durch Handabdrücke derselben, die Grundlagen für die Malereien 1 und 2. Dann verbinden sich in den Collagen diese Figurationen mit denen des Tanzfrieses – eine Rückkopplung. Es entsteht langsam eine neue Qualität.

Figuren verschwimmen

Figuren bilden sich, ihre Umrisse entstehen und verschwimmen, oft ist nur eine Seite klar konturiert, die andere verwischt, verblasen und aufgelöst. In dieser Spannung entstehen die Kompositionen der kleinen Malereien. Diese Vorgänge setze ich ins Verhältnis zur Entwicklung meiner Beziehungen zu anderen Menschen oder zu Vorgängen in der Natur, in der sich Formen etablieren und vergehen. Wenn ich einen Gegenstand vom Boden des Gärtchens emporhebe, krabbeln Asseln und Ameisen in Deckung, versuchen die Regenwürmer schnell zu verschwinden. Von diesem Getier gibt es Massen in der dünnen Erdschicht. Sie sind aber immer nur kurz zu sehen.

Manchmal gehe ich mit der Handykamera über das Gelände und versuche alle Insektenarten zu fotografieren, die sich hier etabliert haben, als könnte das helfen, dieses Gelände vor dem Zugriff einer Neubebauung zu retten.

Heute will ich an Rolle 11 weiterarbeiten. Der Verdichtungsmodus, den ich zeichnend gewählt habe, hat einen regelmäßigen Dreitaktrhythmus: 1. eine neue Tanzzeichnung und deren Füllung mit dem vorangegangenen Material, 2. ihre leeren Umrisse im Liniengesträuch und 3. Einbindung ins Geflecht durch Überlagerung. Dann geht es mit der nächsten Tanzzeichnung von 2003 genau so weiter.

Getier

Der Donner der Güterzüge überdeckt vom Bahndamm her das Rascheln der Eidechsen im trockenen Laub am Boden des Gärtchens. Zwischen einem aufgespalteten Totholzstamm einer Pappel gruben sich zwei Blauschwarze Holzbienen im senkrechten Spalt gegenüberliegende Tunnel. Sie leben nun auf einer Etage und können sich gegenseitig in die Höhlen schauen. Ihr Abraum verschüttete den Eingang der vorjährigen Röhre.

Das Schlagloch im Betonboden auf dem Hof habe ich für die Tauben mit Wasser aufgefüllt, denn der angekündigte Regen lässt auf sich warten. Winzige schöne Schmetterlinge, mit reich gemusterten Flügeln, umflatterten weitere Wiesengamsbärte, die ich gestern entdeckte.

Die hellen Punkte in den Buchmalereien stammen von Steinabdrücken im Papier. Sie erscheinen durch mehrfache Schraffuren in unterschiedlichen Farben. Dieses Vorgehen stammt eigentlich von der Lasurmalerei, deren Farbigkeit durch durchscheinende Farbschichten und Weißhöhungen entsteht. Und daneben treten auch wieder Figuren auf, deren Umrissformen den Handabdrücken folgen.

Beim Gehen

Die Gedanken beim Gehen mit der Gießkanne, die Wasserstellen der Tauben füllend, den Traum noch im Kopf von dem Baby in einer Tasche, in einem Zimmer eines langen Korridors, verschwunden und mir anvertraut. Die Mutter aber interessierte es nicht. Finde die Gartenschere zwischen den Blumentöpfen, schneide überkopf, Spinnensplitter in den Haaren.

An Perlonfäden hängen die Ringe der Napfmuscheln, kreiseln in der Stille des Brückentages. Nur ein unsichtbares Aggregat quietscht rätselhaft rhythmisch auf der leeren Baustelle.

Die Miniaturplastik von Hanuman, die wir in Indien gekauft haben, strich ich mit Wasserfarben ein und machte davon Handkantenabdrücke für die Buchmalereien. Zwischen den Lavasteinabdrücken entstanden verschiedene Lufttänzerinnen hinter Bünenkonstruktionslinien. An Rolle 11 arbeitete ich gestern nicht. Schließlich war der 1. Mai, Kampf und Feiertag der Arbeiterklasse. Im Gärtchen gab es Bier aus einer großen Flasche.

Herkunft und Zeichenstil

Die Kinder vertieften sich gestern lange in ihre Transparentpapierrollen. Zuvor zeigte ich ihnen das, was ich auf diesem Gebiet mache. Bei ihrer Arbeit mit Bleistift, Tusche und Schellack wurden ihre unterschiedlichen Handschriften sehr deutlich. Ein Eritreischer Junge, der die Schreibschrift seiner Region im Handgelenk hat, zeichnete die Formen nur ungefähr und kreisend suchend durch, sodass eine ganz eigene Struktur entstand. Und so kann man bei jedem einzelnen Schüler den Zusammenhang von Herkunft und Zeichenstil betrachten.

Das hat mich angespornt, mit dem Tanzfries weiter zu machen und ihn innerhalb der Collagen mit den Buchmalereien zu verflechten. Mit dem zusammengesackten Personal von heute, mit seiner Haut aus Farblasuren, Handballenstrukturen und Verwischungen. Mit den Lavasteinen und den Holznadeln schrieb ich Vertiefungen in das glatte Papier, die durch Schraffuren heller hervorgehoben werden. Manchmal besitzen die Figuren klare Umrisse, manchmal lösen diese sich an einigen Stellen auf und oft werden die Abgrenzungen zur Umgebung nur durch unseren erinnernd vergleichenden Geist geschaffen.

Die kleinen Malereien mache ich am Zeichentisch, der in der Mitte des Ateliers steht. Das Schreiben geschieht im Sommer draußen, während ich in meiner Gartennische auf dem Korbsessel sitze. Die beiden Tagebuchelemente entstehen also in unterschiedlichen Situationen. Die Texte werden draußen vom Anblick des Dschungels beeinflusst. Das wäre mit den Bildern sicherlich noch auffälliger.